Russka
einem hohen Offizier den Gehorsam verweigern, wenn er nur zu beweisen vermochte, daß etwa sein Großonkel eine höhere Position innegehabt hatte als der Großvater des anderen. Dieses Opus war deshalb so umfangreich, weil natürlich jede Adelsfamilie dem zuständigen Beamten einen möglichst ausführlichen und beeindruckenden Stammbaum brachte. Dieses System hatte sich im vorhergehenden Jahrhundert entwickelt und inzwischen einen solchen Grad von Absurdität erreicht, daß Zar Ivan es im Kriegsfall außer Kraft setzte, sonst wäre vermutlich kein Befehl befolgt worden.
Boris wußte von seinem Vater, daß die Bobrovs aufgrund früherer Dienstleistungen beim Fürsten den Ivanovs, selbst wenn sie verarmt waren, nicht nachstanden. Hatte sein Vater sich getäuscht, oder hatte er ihn gar täuschen wollen? Als er jetzt zu Fedor hinüberblickte, kamen ihm Zweifel an seiner eigenen Position, und er errötete.
»Es ist nicht die Zeit für derlei Themen.« Das war Dmitrij Ivanovs Stimme, die das peinliche Gespräch beendete. Boris war seinem Schwiegervater dankbar dafür, doch das Gefühl der Verlegenheit wollte nicht von ihm weichen.
Spätnachts brachten die jungen Männer das Paar zurück in Boris' Haus. Es war klein und da es einem Priester gehört hatte, weiß getüncht zum Zeichen, daß der Bewohner keine Steuern zahlen mußte. Boris hatte Glück gehabt mit dem Haus. Dem Brauch entsprechend hatte er Getreidegarben aufs Brautbett gelegt; nun war er endlich allein mit Elena. Er sah sie an. Sie lächelte etwas unsicher.
Was dachte dieses scheue vierzehnjährige Mädchen mit dem goldenen Haar? Sie dachte, daß sie diesen jungen Mann würde lieben können; daß sie ihn, auch wenn er in allem etwas unbeholfen war, lieber mochte als ihren Bruder. Sie hatte Angst, daß sie, weil sie jung und unerfahren war, nicht wußte, wie sie ihm zu Gefallen sein könnte. Sie spürte, daß er einsam war, unsicher, voller Ängste und sehr mißtrauisch. Einerseits wollte sie ihn trösten, ihm helfen, aus seiner Misere herauszukommen, andererseits fürchtete sie, daß er statt dessen von ihr verlangen könnte, seine Einsamkeit mit ihm zu teilen. Dieses instinktive Gefühl der Gefahr hielt sie davor zurück, sich ihm allzu rasch zu unterwerfen.
Zwei Wochen später traten sie ihre Reise nach Russka an. Es war ein gleißender Wintermorgen, als Boris und Elena, in Pelze gehüllt, sich auf einem großen, von drei Pferden gezogenen Schlitten dem Städtchen näherten.
Auf dem Marktplatz fand gerade ein kleines, aber nicht unwichtiges Treffen statt. Vom Aussehen her hätte man nicht schließen können, daß diese vier Männer – ein Priester, ein Bauer, ein Kaufmann und ein Mönch – Vettern waren. Und nur der Priester wußte, daß er ein Nachkomme von Yanka war, jener Bauersfrau, die den Tataren getötet hatte.
Vor allem Michail, der Bauer aus Sumpfloch, zeigte sich besorgt. Er war ein vierschrötiger, breitbrüstiger Bursche mit einem dunkelbraunen Lockenkranz und sanften blauen Augen. Jetzt sah sein sonst so freundliches Gesicht bekümmert drein. »Glaubst du wirklich, daß ihre Mitgift klein ist?« Der großgewachsene Priester bejahte.
»Das ist schlimm, sehr schlimm.« Und der arme Mann starrte unglücklich auf seine Füße.
Stefan sah ihn mitleidig an. Seit vier Generationen zuvor sein Urgroßvater nach einem Mönch aus der Verwandtschaft getauft worden war, erhielt jeweils der älteste Sohn der Familie den Namen Stefan und wurde Priester. Auch seine Frau war Tochter eines Priesters.
Stefan war zweiundzwanzig, eine stattliche Figur, die Würde ausstrahlte. Sein Bart war sorgfältig gestutzt, die blauen Augen blickten ernst. Er hatte Verbindungen in Moskau, und da er lesen und schreiben konnte – für einen Priester der damaligen Zeit ungewöhnlich –, stand er in Briefwechsel mit Personen in der Hauptstadt. So war es ihm möglich gewesen, Auskünfte über Elena einzuholen, und die Informationen waren eindeutig.
»Eine Ehefrau ohne Geld – denkt euch nur, was das für mich bedeutet!« jammerte Michail. »Er wird das Letzte aus mir herausholen.«
Alle verstanden sein Problem. Sumpfloch war Boris' ganzer Besitz. Die einzige Möglichkeit, eine Frau und bald eine Familie zu unterhalten, bestand in intensiverer Nutzung des Bodens und größerer Ausbeutung der Bauern, die ihn bewirtschafteten. »Ihr zwei habt Glück«, meinte Michail zu Stefan und dem Mönch Daniel. »Ihr seid Geistliche. Und du«, wandte er sich an den Kaufmann, »was
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