Russka
unternehmen. Die Gesetze, nach denen ein Bauer seinen Herrn verlassen durfte, waren fünfzig Jahre zuvor von Ivan dem Großen erlassen und von seinem Enkel, dem derzeitigen Zaren, erneuert worden. Ein Bauer durfte seinen Dienst nur zu bestimmten, von seinem Herrn festgesetzten Daten verlassen, und zwar in den beiden Wochen um den Sankt-Georgs-Tag, den 25. November. Das hatte durchaus einen Sinn, denn um diese Zeit war die gesamte Ernte eingebracht; doch für den Bauern war es die schlechteste Zeit des Jahres, sich nach etwas Neuem umzusehen. Außerdem waren hohe Austrittsgebühren zu entrichten. Wenn nach der Kündigung auch das erledigt war, konnten der Bauer und seine Familie sich frei bewegen. Aber wohin? Das war Michails Problem. »Warten wir noch ein wenig, dann sehen wir weiter«, sagte er abschließend. Seine Frau würde geduldig abwarten, das wußte er. Und da er nicht wußte, was er machen sollte, beschloß er, sich Rat bei seinem Vetter, dem Priester Stefan, zu holen.
Keiner sprach darüber, doch jedermann am Hof in Moskau dachte dasselbe: Man hatte den Zaren verraten, gegen ihn gemeutert. Im März war Ivan schwer erkrankt, wahrscheinlich an Lungenentzündung. Er konnte kaum noch sprechen. Den Tod vor Augen, bat er Fürsten und Bojaren, seinen Sohn, der noch ein Säugling war, als Nachfolger zu akzeptieren. Doch die meisten schlugen ihm die Bitte ab – und das war, strenggenommen, offene Meuterei. »Dann haben wir eine andere Regentschaft, die auf die Familie der Mutter, diese verdammten Zacharins, übergeht«, lautete das Hauptargument. Welche Alternative sahen sie? Da war die harmlose, mitleiderregende Figur des jüngeren Zarenbruders – eine schwachköpfige Kreatur, die sich selten blicken ließ. Und da gab es Vladimir, den Vetter des Zaren. Von allen Fürsten war er am engsten mit dem regierenden Monarchen verwandt, ein Mann mit Erfahrung, ein besserer Thronanwärter als das Kind.
Am Bett des Schwerkranken wurde debattiert. Selbst Ivans engste Vertraute drückten sich flüsternd in Ecken herum. Und der Zar lauschte, und sein Mißtrauen wuchs.
Was würde nach dem Tod des Zaren mit dem Moskauer Staat geschehen? Würde er in Anarchie stürzen, da die Magnaten einander gegenseitig bekämpften um der Macht willen? Doch der Zar genas. Die Höflinge verneigten sich wieder lächelnd vor ihm. Die Nachfolge seines Vetters Vladimir war kein Thema mehr, als habe man nie darüber gesprochen. Zar Ivan verlor kein Wort darüber, doch er vergaß nichts. Und über dem gesamten Hof lag eine düstere Atmosphäre. Im Mai reiste Ivan mit seiner Familie in den hohen Norden, um die Dankgebete für seine Genesung in ebenjenem Kloster zu sprechen, das seine Mutter aufgesucht hatte, als sie mit ihm schwanger war. Es war ein langer Weg bis in die Wälder kurz vor der arktischen Leere. Auf der Reise fiel der Kinderfrau der kleine Prinz, Ivans und Anastasias Sohn, aus den Armen und starb. Boris und Elena waren im März nach Moskau zurückgereist und hatten sich in ihrem bescheidenen Häuschen in der Weißen Stadt eingerichtet. Elena besuchte Mutter und Schwester täglich. Dort hörte sie ständig Neuigkeiten über die schlimmen Ereignisse am Hof, entweder durch Elenas Vater oder durch ihre Mutter. Boris war häufig allein, er hatte nicht viel zu tun. Obwohl sie ein ruhiges Leben führten, hatte er große Ausgaben: für die Pferde, für Geschenke, und vor allem für die vielen Meter von Seidenbrokat und Pelzbesatz für Kaftane und Kleider, die für Höflichkeitsbesuche nötig waren. Er hoffte sehr, daß diese Investitionen nicht vergeblich waren.
Manchmal spürte er dumpfen Zorn, wenn seine Frau fröhlich von einem Besuch bei der Mutter zurückkam. Wenn sie nachts beieinanderlagen, begehrte er sie, hielt sich aber trotzdem zurück. Wie kann sie mich lieben, wenn sie meine Sorgen nicht teilt? überlegte er. Mitunter war diese Gefühlskälte seine Art, sie zu bestrafen.
Die junge Elena dagegen dachte bei diesen Anzeichen von Gleichgültigkeit, ihr launischer Mann habe kein Interesse mehr an ihr. Obwohl ihr eher nach Tränen zumute war, zog sie sich stolz zurück, oder sie richtete eine Barriere zwischen ihnen auf, so daß er wiederum dachte: Ich sehe, sie will mich nicht mehr. Manchmal betete Boris vor den Ikonen in der Kirche, daß er und seine Frau einander lieben und verzeihen könnten, doch im Grund seines Herzens glaubte er nicht mehr daran. Bei einer solchen Gelegenheit kam Boris zufällig ins Gespräch mit dem jungen
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