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Ruth

Ruth

Titel: Ruth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank G. Slaughter
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durch einen Boten, den
Machlon zu ihr gesandt hatte. Früh an dem Nachmittag, der dem Tod des Vaters
ihres Verlobten folgte, stieg sie mit Orpa den Berg von der Straße aus hinauf.
Sie trugen Platten mit Speisen und Steinkrüge mit Wein.
    Machlon hob auf dem Hügel ein
Grab aus. Außer ihnen gab es niemanden in Moab, der hebräischen Glaubens war,
und kein Ort schien passender zu sein als der Berghang, an dem sie ihr erstes
Zuhause in diesem neuen Land gefunden hatten.
    Ruth und Orpa trugen wie immer
ihre farbenprächtigen Gewänder, denn hier galt der Tod nicht als etwas, das
besondere Trauer nach sich zog. Die Moabiter glaubten, daß die Toten in der
Unterwelt ihre Zeit in fröhlicher Gesellschaft mit Singen, Trinken und Lieben
verbrächten, mit Vergnügungen, die ihnen auf Erden nicht immer vergönnt waren.
    Ruth kniete sich neben das
Grab. „Euer Kummer ist unser Kummer“, sagte sie zu der einsamen Familie, die um
das Grab versammelt war. „Kamosch tröste euch.“
    Und Orpa wiederholte: „Euer
Kummer ist unser Kummer. Kamosch tröste euch.“
    Noëmi runzelte die Stirn, als
sie den Namen des fremden Gottes hörte, und Machlon blickte fragend auf die
Platten mit den Speisen und die Weinkrüge. „Wofür sind die?“ fragte er.
    „Für den Geist deines Vaters
auf seiner langen Reise in die Unterwelt“, erklärte Ruth. „Wir legen sie ins
Grab.“
    „Wollt ihr, daß sie die Ruhestätte
eures Vaters mit ihren Götzengaben entweihen?“ brach Noëmi aus. Sie ergriff die
Platten und schleuderte sie gegen einen Fels. Dann rannte sie in die Höhle und
warf sich schluchzend neben der Leiche ihres Mannes auf die Erde.
    Als Ruth ihr nachgehen wollte,
legte Machlon seine Hand auf ihren Arm. „Laß sie, Ruth“, sagte er. „Morgen wird
sie anders denken. Heute überwältigt sie der Kummer.“
    „Was habe ich getan, daß sie
mich beschuldigt, das Grab deines Vaters zu entweihen, Machlon?“
    „Mein Vater ist nicht in die
Unterwelt gegangen, Ruth. Er war ein guter Mann und hat das Gesetz befolgt.
Deshalb ist er zu Gott zurückgekehrt, der ihn schuf und ihm das Leben gab.“
    „Wohin aber? Wo ist er?“
    „Dort.“ Machlon deutete zum
Himmel.
    „Auf den Berggipfeln?“
    „Über ihnen, sogar über den
Wolken. An einem Ort, den wir Himmel nennen, wo der Allerhöchste wohnt. Mein
Vater wird bei ihm leben.“
    „Ist es ein glücklicher Ort?“
    „Es gibt keinen glücklicheren.“
    „Warum seid ihr dann so
traurig?“ fragte sie. „Warum freut sich deine Mutter nicht, daß dein Vater an
diesen glücklichen Ort gegangen ist, den du Himmel nennst, da er doch hier auf
Erden so krank und von Schmerzen geplagt war?“
    Machlon konnte nicht antworten,
denn es gab keine Antwort. „Ich werde euren Gott nie verstehen, Machlon“, sagte
Ruth traurig. „Manchmal glaube ich, daß ich nicht einmal dich verstehe. Und
deine Mutter haßt mich. Du hast es eben gesehen. Komm, Orpa“, rief sie. „Wir
müssen in die Stadt zurück, bevor die Tore geschlossen werden.“
    „Meine Mutter wollte dich nicht
verletzen, Ruth“, widersprach er. „Sie ist verzweifelt.“
    „Eine Zeitlang glaubte ich, daß
wir uns etwas nähergekommen wären“, sagte Ruth traurig. „Aber jetzt wird sie
mich nie für etwas anderes als einen Feind halten, der das Grab deines Vaters
entweiht hat. Sie wird niemals glauben, daß ich mit dir um deinen Vater trauern
will, auch wenn ich nicht verstehen kann, warum ihr das tut. Und daß ich auch
für sie Mitleid und Liebe empfinde.“
    „Wenn du ihr das nur sagen
könntest. Es würde vielleicht vieles ändern.“
    Ruth schüttelte den Kopf. „Sie
würde nur den Kreis auf meiner Stirn sehen und mich anschauen, als ob ich ein
kriechendes Wesen wäre, das es verdient, mit dem Fuß zertreten zu werden.“
    „Gib ihr Zeit, Ruth“, bat
Machlon. „Meine Mutter ist nicht mehr jung, und sie liebte meinen Vater sehr.
Und jetzt glaubt sie, Kiljon und auch mich zu verlieren.“
    Ruth drehte sich um. Ihr
Zornesausbruch tat ihr leid, und sie küßte Machlon rasch auf die Stirn, als er
im beinahe fertig ausgehobenen Grab stand. Dann wandte sie sich um und eilte
den Pfad hinunter zur Straße und zum Stadttor, bevor er sehen konnte, daß sie
weinte.
     
    Zwei Wochen nach dem Tod seines
Vaters fragte Machlon Noëmi, ob er mit Ruth vor den König treten könnte, um die
Erlaubnis zur Heirat zu erbitten. Seit der Tod ihr den Mann genommen hatte, war
sie Tag um Tag in der Höhle gesessen und hatte vor sich hingestarrt. Sie

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