Ruth
Stimme.
Machlon half ihr auf. „Aber
jetzt darf ich dich doch küssen, nicht wahr?“ fragte Ruth. „Oder würden das die
Gesetze...“
Für einen langen Augenblick
waren keine Worte nötig. Endlich schob sie ihn von sich. „Ich muß jetzt gehen“,
sagte sie. „Sie brauchen mich vielleicht im Tempel.“
„Morgen wirst du aufhören, eine
Dienerin des Kamosch zu sein“, versprach Machlon. „Wir werden zum König gehen,
wenn er am Morgen für das Volk Audienz hält, und um seine Erlaubnis zu unserer
Heirat bitten.“
„Ich glaube, Kiljon und Orpa
werden mit uns gehen wollen“, sagte Ruth. „Orpa sagte mir, daß sie sich
lieben.“
Machlon schickte sich an, den
Weg zur Höhle einzuschlagen, aber Ruth blieb stehen. „Die Tore der Stadt sind
geschlossen“, sagte sie. „Ich kann diesen Weg nicht zurückgehen.“
„Bleib bis zum Morgen hier!
Meine Mutter wird nichts dagegen haben, wenn du die Nacht in unserer Höhle
verbringst.“
„Es gibt ein Tor an der
Rückseite des Tempels, das Tor des Priesters genannt“, erklärte sie ihm. „Nur
diejenigen, die dem Tempel und dem König dienen, wissen, wie es zu öffnen ist.“
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn noch einmal. „Bis morgen
also, Machlon.“
Machlon blickte ihr nach,
solange er ihre Gestalt in der Dunkelheit erkennen konnte. Dann wandte er sich
um und schritt der Höhle entgegen. Kiljon und Orpa trafen auf ihn, als sie den
Hügel herabkamen. Das Mädchen lief hinter Ruth her, und Kiljon ging mit Machlon
zurück zur Höhle.
„Mutter!“ rief Machlon
glücklich aus, als sie zur Öffnung der Höhle kamen. „Ruth und ich sind
verlobt.“
Noëmi kam heraus, und sie
sahen, daß ihr Gesicht vor Kummer verzerrt und tränennaß war.
„Was ist geschehen?“ rief
Machlon aus und legte seine Arme um die schmalen Schultern, an denen er als
Kind so oft gelehnt hatte. „Kränkt es dich so sehr?“
Noëmi schüttelte den Kopf.
„Euer Vater ist tot, meine Söhne“, sagte sie. Ihre Stimme ging in einem
Schluchzen unter. „Ich habe es gerade bemerkt, als ich ihm etwas zu essen
bringen wollte. Der Herr war gnädig und hat ihn im Schlaf zu sich genommen.“
Machlons Augen füllten sich mit Tränen vor Schreck und Kummer. „Er starb, als
ich auf dem Hügel von Liebe redete“, flüsterte er. „Ich, der ich der Ältere bin
und hätte hier sein müssen, um ihm die Augen im Tod zu schließen.“ Er sank
neben seiner Mutter nieder und begann zu schluchzen, wie der kleine Junge, der
er vor so langer Zeit gewesen war. Auch Kiljon kniete sich neben sie und
vergrub das Gesicht in seine Hände.
„Liebe, meine Söhne“, sagte
Noëmi sanft und tröstend zu ihnen, „Liebe ist für die Jungen. Denn durch sie
beginnt das Leben von neuem. Aber der Tod ist für die Alten.“ Ihre Stimme brach
erneut. „Und das Ende von allem.“
In dem Zimmer, das sie im
Tempel mit Orpa teilte, löschte Ruth die Flamme in der mit Olivenöl gefüllten
Schale, die als Lampe diente, und streckte sich in der Dunkelheit auf ihrem
Bett aus. „Habt ihr euch heute nachmittag geküßt, Orpa?“ fragte sie.
„Natürlich“, lachte Orpa.
„Warum sind wir wohl auf den Hügel gegangen?“
„Empfindest du große Zärtlichkeit,
wenn er dich küßt?“
„O ja.“
„W-was noch?“
„Was man immer empfindet, wenn
ein Liebhaber einen küßt“, sagte Orpa sachlich. „Als ob sich einem die Knochen
in Wasser verwandeln, und man möchte nur eines — in seinen Armen bleiben und
ihm seinen Willen lassen.“
„Oh!“
Es war kaum vernehmbar, aber
Orpa setzte sich auf. „Du liebst diesen Israeliten doch, nicht wahr, Ruth?“
fragte sie besorgt. „Es bedeutet Unglück für dich, wenn du ihn heiratest, ohne
sicher zu sein, daß du ihn liebst.“
„Natürlich liebe ich ihn,
Orpa.“ Ruth sprach hastig, als ob sie sich selbst überzeugen müßte. „Wie kommst
du bloß darauf, daß ich ihn nicht liebe?“
Zufrieden legte sich Orpa
zurück und war bald eingeschlafen. Es dauerte jedoch eine ganze Weile, bis Ruth
aufhörte, sich auf ihrem Bett zu drehen und zu wenden, unfähig einzuschlafen.
Und als sie endlich doch eingeschlafen war, träumte sie seltsamerweise nicht
von ihrem Verlobten, sondern von ihrem Vater und wie zärtlich und gütig er zu
ihr als kleinem Mädchen gewesen war.
14
Durch den Tod Elimelechs mußten
Ruth und Machlon ihre Pläne verschieben und konnten den König nicht sofort um
die Genehmigung zur Heirat bitten. Ruth erfuhr davon
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