Ruth
sie
mitgebracht hatte, war nichts zurückgelassen worden. Den drei Frauen blieben
nur die Kleider, die sie trugen, und das Zelt, in dem sie geschlafen hatten.
Einen Augenblick lang hatte
Ruth das Bedürfnis, sich auf den Boden zu werfen und zu weinen, dann aber
richtete sie sich mit Mühe auf und schob die Zeltklappe zur Seite.
„Orpa“, rief sie. „Komm
heraus!“
Orpa steckte ihren Kopf durch
die Öffnung und blinzelte in die Sonne. Als sie sah, daß sie allein waren,
füllten sich ihre Augen mit Tränen der Angst.
„Was ist geschehen, Ruth?“
weinte sie. „Wo sind die Sklaven und die Maultiere?“
„Die Sklaven haben uns während
der Nacht bestohlen“, erklärte Ruth. „Sie müssen nördlich auf Sukkot zu oder
zurück nach Heschbon gegangen sein.“
„Was werden wir tun?“ Orpa
brach in hysterisches Schluchzen aus. „Wir werden hier einsam sterben.“
Die Hilflosigkeit der Jüngeren
ließ Ruth nur noch deutlicher bewußt werden, daß ihre eigenen Schultern nun die
Last der Sorge um ihre Familie tragen mußten. „Unsere Männer waren tapfer,
Orpa“, sagte sie ruhig. „Wir werden wie sie sein.“ Sie blickte hinauf in die
Palmen. „Es gibt Datteln hier und Wasser. Wir werden nicht verhungern.“
„Wir könnten hier warten, bis
eine andere Karawane vorbeikommt“, schlug Orpa vor.
Ruth schüttelte den Kopf. „Wir
sind nicht mehr als eine Zweitagereise vom Jordan entfernt. Wenn Hedak in den
nächsten Tagen zurückkehren sollte, schickt er vielleicht Soldaten hinter uns
her. Nein, Orpa“, sagte sie entschieden. „Wir müssen weiter. Noëmi kann auf dem
Maultier reiten, das den Wasserschlauch trägt. Du und ich, wir müssen zu Fuß
gehen, und wir werden das Zelt zurücklassen. Du kannst Datteln auflesen,
während ich Noëmi für den Aufbruch vorbereite.“
Noëmi saß in einer Ecke des
Zeltes. Ihr Gesicht trug den harten Ausdruck des Elends, der seit Monaten nicht
aus ihm gewichen war. „Die Sklaven haben uns verlassen, Noëmi“, erklärte Ruth,
als sie sie hinausbegleitete. „Sie haben alles mitgenommen, außer einem
Maultier, auf dem du reiten kannst, und einem Wasserschlauch. Aber wir werden
weiterziehen.“
„Nennt mich nicht mehr Noëmi,
nennt mich Mara, denn Schaddai hat mich mit Bitternis erfüllt.“
Ruth nahm sie sanft bei der
Hand und half ihr, sich aufzurichten. „Orpa wird dir ein paar Datteln zu essen
geben, während ich den Wasserschlauch fülle“, sagte sie. „Wir müssen
weiterziehen, bevor die Sonne zu heiß wird.“
Und so machte sich die
verlassene kleine Karawane erneut auf den Weg nach Westen über die sengende
Einsamkeit der Wüste.
Spät am folgenden Nachmittag
kletterten sie über einen niedrigen Hügel und erblickten einen zweiten Pfad,
der von Norden her in ihren Weg einmündete. In der Ferne ahnte man einen Grünstreifen,
der den Lauf des Jordan andeutete. Das Maultier, auf dem Noëmi saß, war kaum
fähig, sich unter ihrem Gewicht und der Last des schlaffen Wasserschlauchs
aufrechtzuhalten. Sie waren alle halb blind von der Hitze und dem Sand.
Orpa stolperte über einen Stein
und stürzte zu Boden. „Laß mich sterben, Ruth“, flehte sie. „Warum strafst du
uns, indem du uns so antreibst?“
Ruth kniete sich neben die
erschöpfte junge Frau und half ihr, sich aufzurichten. Wie oft war Orpa seit
gestern gestürzt, wie oft war Noëmis Maultier vom Weg abgewichen — und nur
Ruths Entschiedenheit hatte sie den Zug fortsetzen lassen. Nun ließ sie die
beiden aus dem beinahe leeren Wasserschlauch trinken und gab auch dem Maultier
ein bißchen Wasser. Sie selbst trank nicht, obwohl ihre Zunge vor Durst
ausgetrocknet und geschwollen war, denn sie wußte nicht, was zwischen ihnen und
dem fernen Grünstreifen lag.
„Es ist nicht mehr weit“, sagte
sie, so zuversichtlich sie konnte. „Seht, das grüne Flußufer liegt schon vor
uns.“
Orpa hob den Kopf und starrte
in die Ferne. „Schau, dort auf dem anderen Weg, Ruth!“ schrie sie plötzlich.
„Eine Karawane! Wir sind gerettet!“ Und blind rannte sie den Pfad hinunter,
ohne auf Ruths Warnung zu hören, daß die Fremden auch Feinde sein könnten.
Ruth konnte nichts anderes tun,
als mit Noëmi zu folgen. Als sie an die Stelle kamen, wo die beiden Pfade
aufeinandertrafen, fanden sie Orpa von Menschen der anderen Karawane umringt.
Sie trank Wasser und lachte fast hysterisch.
„Wir sind gerettet, Ruth!“ rief
sie aus. „Dies sind Freunde meines eigenen Stammes aus Edom.“
Die edomitische
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