Ruth
mit Mühe die Tränen zurück. „Du bist ein Mann
und könntest vergessen. Aber ich würde ewig daran denken.“ Plötzlich legte sie
ihr Gesicht an seine Brust.
„Aber sie haben die Gesetze
doch nicht wiedereingeführt, Ruth. Warum weinst du?“
„Tob hat auf den Besitz
Elimelechs und Machlons eine Anzahlung geleistet“, brach es aus ihr heraus.
„Noëmi sagt, daß ich nach dem Gesetz dadurch mit ihm verlobt bin.“
Boas atmete tief. Das war nicht
weniger schlimm, als wenn der Rat die alten Gesetze wiedereingeführt hätte.
Denn Ruth, mit Tob verlobt oder verheiratet, war für ihn ebenso verloren.
„Tob ist der nächste
Verwandte.“ Boas runzelte die Stirn. „Aber an die Möglichkeit einer Anzahlung
auf den Besitz hatte ich nicht gedacht.“
„Es muß irgendeinen Weg geben.“
Sie sah ihn flehend an. „Kannst du mich ihm nicht einfach wegnehmen?“
„Unsere Gesetze sind sehr
streng, Ruth.“
Da zog sie sich zurück und
stieß ihn von sich. „Ich hasse sie! Sie sind ungerecht! Warum muß ich ein
ungerechtes Gesetz befolgen?“
„Ohne Gesetze, Ruth, würden die
Leute bald zu wilden Räuberbanden werden.“
Ihr Zorn gegen das, was sie für
eine Ungerechtigkeit hielt, wandte sich jetzt gegen Boas, weil er es billigte.
„Hast du denn keine eigene Meinung?“ rief sie empört. „Du hättest ja sogar
Tamar zurückgebracht, damit sie gesteinigt würde...“
„Ruth!“
Sie riß sich von ihm los. „Du
kannst die Gesetze befolgen! Aber ich werde Tob nicht heiraten, ganz gleich,
was irgendeiner sagt. Ich würde mich eher umbringen.“
„Es wäre wie der Tod für mich,
mit ansehen zu müssen, wie Tob dich zur Frau nähme“, sagte Boas, und sie hörte
den Schmerz in seiner Stimme. „Aber du mußt verstehen, daß das Gesetz für einen
Israeliten über allem steht.“
„Sogar über unserer Liebe?“
„Sogar darüber, Ruth“, sagte er
leise, als ob jedes einzelne Wort ihn bis ins Innerste schmerzte, und so war es
auch. „Unsere Liebe ist von uns selbst“, erklärte er. „Aber das Gesetz ist von
Gott.“
13
Jetzt, da die Getreideernte
beendet war, war jeder Mann in Juda, der mit einem Speer umgehen konnte, damit
beschäftigt, sich für den Zeitpunkt, an dem die Kinder Israels um ihr Überleben
kämpfen müßten, auszubilden. Nach den Berichten von Boas’ Kundschaftern in Moab
bereitete Hedak endgültig den Angriff vor, und keiner konnte die Dringlichkeit
der Verteidigungsvorbereitungen mehr verkennen.
Das Ausbildungslager nördlich
von Betlehem war jetzt viel größer als vor einer Woche, denn Eliab war vom
angrenzenden Stamm Benjamin gekommen und hatte eine große Schar junger Männer
mitgebracht. Ihre Ziegenlederzelte standen verstreut auf der weiten, von Hügeln
begrenzten Fläche, und der Rauch der Kochfeuer stieg in die warme Luft.
Boas, Joseph und Eliab, der
unter Boas zweiter Befehlshaber sämtlicher Streitkräfte war, beobachteten eine
Gruppe von Soldaten, die mit ihren Speeren übten. Grobe Holzrahmen, bespannt
mit dünnem Stoff, der in Kohlestrichen die Umrisse von Männern und Pferden
aufwies, waren in unterschiedlichen Abständen vor den Werfenden aufgestellt.
Eine andere Gruppe versuchte, die gleichen Ziele auf niedrigen, mit Seilen
gezogenen Karren zu treffen. Einer nach dem anderen rannten die Soldaten zu
Boas, wandten sich um und warfen ihre Speere.
Die Wochen der Ausbildung
begannen bereits Erfolge zu zeitigen. Viele der Waffen trafen ihre Ziele genau,
nur manchmal verfehlte ein nervöser Werfer sein Ziel ganz und gar. Nach einem
dieser Würfe trat Boas vor und nahm mit einem ermunternden Wort an den
niedergeschlagenen Soldaten einen Speer aus dem großen Haufen an der Seite des
Feldes und zeigte dem Mann genau, wo er den Schaft fassen mußte, damit die
Waffe ausbalanciert in der Hand lag. Mit einem schnellen, glatten Wurf sandte
er den Speer auf das entfernteste Ziel zu, das fast genau in der Mitte
durchbohrt wurde.
„Ausgezeichnet!“ rief Eliab
bewundernd aus. „Du bist noch immer der beste Speerwerfer in ganz Israel.“
„Joseph wird jeden Tag besser.“
Boas lächelte seinem jungen Adjutanten zu. „Die Jugend wird uns bald
übertreffen.“
„Sie sind alle besser als in
der vergangenen Woche“, bemerkte Eliab.
Boas sah zu dem sich fern im
Osten auftürmenden Gebirge hinüber. Irgendwo hinter diesen Bergen bereiteten
sich die Soldaten von Moab auf ihren Marsch vor. Es war ein erbarmungsloser
Wettkampf und der Tod das Los des Verlierers.
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