Ruth
dem Wind im Rücken Korn und Spreu in die Luft. Die
schwereren Gerstenkörner fielen auf das Tuch zurück, die leichtere Spreu wurde von
der Brise weggeweht.
Boas kam zur Mittagszeit vom
Lager der israelitischen Soldaten zurück. Er arbeitete während des ganzen
Nachmittags mit den Dreschern und handhabte den Flegel so geschickt wie
irgendeiner.
Ruth arbeitete mit den Frauen
und ertrug schweigend die ständigen Sticheleien Zeldas und einiger anderer.
Boas kam nicht herüber, um sie zu begrüßen, aber obwohl die ganze Breite der
Tenne sie voneinander trennte, war jeder sich der Gegenwart des anderen bewußt,
als ob sie nahe beieinander wären.
Noch bevor die Drescharbeiten
beendet waren, begannen die jungen Frauen sich zu entfernen, um sich für das
Fest zu kleiden, das nach Einbruch der Dunkelheit stattfinden sollte. Wie Noëmi
es ihr gesagt hatte, ging auch Ruth kurz vor Sonnenuntergang. Als sie sich dem
kleinen Haus in der Nähe der Weinkelter näherte, lief ihr Noëmi aufgeregt
entgegen und zog sie ins Haus. In der Mitte des Raumes stand ein großes Schaff
mit Wasser, aus dem der Duft parfümierten Öls stieg.
„Du hast zu lange gearbeitet,
Kind“, tadelte Noëmi, als Ruth sich der groben Kleidung entledigte, die sie
während der Arbeit trug. „Jetzt müssen wir uns beeilen, damit du rechtzeitig
zum Fest kommst.“
„Du wirst heute nacht die
Schönste sein“, versicherte Noëmi Ruth glücklich, während sie ihr beim Bad half
und ihr Haar bürstete.
„Aber warum das alles?“
wunderte sich Ruth. „Du hast mir den Grund nicht gesagt.“
„Das Worfeln des Getreides
bedeutet das Ende der Ernte“, erklärte Noëmi. „Heute nacht werden die Leute
essen und trinken und fröhlich sein. Dann legt sich alles mit einem Mantel
zugedeckt auf der Tenne nieder und schläft bis zum Morgengrauen.“
„Ich verstehe immer noch
nicht.“
„In jeder anderen Nacht des
Jahres muß der Mann die Frau wählen, aber heute nach Mitternacht ist es das
Vorrecht der Frau, selbst zu wählen.“
„Meinst du damit, sie wählt den
Mann, bei dem sie heute nacht bleibt?“
„Warum gehe ich dann? Ich werde
Tob nicht wählen, auch wenn ich ihm nach dem Gesetz versprochen bin.“
„Du mußt genau das tun, was ich
dir sage“, bat Noëmi. „Denk daran, daß du es versprochen hast.“
„Aber...“
„Wenn das Fest zu Ende ist und
alle schlafen, mußt du zu Boas hinübergehen und dich unter seinen Mantel
legen.“
„Warum?“ fragte Ruth und
runzelte die Stirn.
„Wie ich dir gesagt habe: Nur
in dieser einen Nacht des Jahres wählt die Frau den Mann. Und ein altes Gesetz
meines Volkes besagt, daß ein Mann die Frau, die in dieser Nacht unter seinem
Mantel liegt, als seine Ehefrau erwerben muß.“
Ruth sprang entsetzt auf. „Das
werde ich nicht tun, Noëmi. Ich werde ihn nicht täuschen, nicht einmal, um...“
„Du liebst Boas, nicht wahr?“
„Ja, aber...“
„Und er liebt dich.“
„Trotzdem würde es bedeuten,
daß ich ihn täusche...“
„Ziehst du die Umarmung Tobs
vor?“
Ruth erschauerte.
„Dann wirst du das tun, was ich
geplant habe“, sagte Noëmi lebhaft. „Willst du mir das Glück versagen, deine
und Boas’ Kinder als Enkel aufzuziehen?“
„Ich werde tun, was du sagst,
Noëmi“, willigte Ruth zögernd ein. „Aber irgendwie erscheint es mir nicht
richtig.“
„Komm jetzt“, ermahnte sie ihre
Schwiegermutter. „Ich muß dich ankleiden.“ Sie nahm ein neues Kleid aus weichem
Stoff vom Bett auf, auf dem sie es ausgebreitet hatte. „Das wird gut zu deinem
Haar passen.“
„Du mußt unser ganzes Geld für
dieses Kleid ausgegeben haben!“
„Nicht unseres, Tobs“,
entgegnete Noëmi. „Ich würde viel dafür geben, sein Gesicht zu sehen, wenn er
jemals erfährt, wofür seine Anzahlung verwendet worden ist.“
14
Er hätte genausogut zum Worfeln
gehen können, dachte Joseph wehmütig, als er über die im Dunkeln liegende Ebene
auf das israelitische Lager zuritt. Jetzt ungefähr wäre das Festmahl vorüber,
und der Tanz würde beginnen — und er, der beste Tänzer in ganz Juda, war nicht
dort.
Die Erinnerung an den Tag, als
er mit Ruth beim Fest der ersten Früchte getanzt hatte, brachte ein Lächeln auf
Josephs Lippen. Wenn er heiraten sollte, entschied er, würde er eine Frau
wählen wie Ruth, so anmutig und gütig, wie ein Mann sich seine Braut nur
wünschen konnte. Warum Boas sie noch immer nicht genommen hatte, konnte er
nicht verstehen. Jeder Narr konnte
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