Rywig 02 - Hab Mut, Katrin
sagte Bernt. „Eins scheint mir auf alle Fälle sicher: Machst du so weiter, schaffst du die Mittlere Reife, ich glaube sogar, du schaffst sie gut.“
„Meinst du wirklich?“
„Ja, ohne Frage. Denke bloß nicht, daß ich Süßholz rasple.“
„O weh, Bernt - jetzt kommt Beatemutti - ich verschwinde.“
Katrin raffte in Eile ihre Bücher zusammen und schlüpfte durch das Eßzimmer hinaus, eine Sekunde bevor Beate von der Vorhalle hereinkam.
Katrin hatte ein Gefühl, als schwebe sie nach oben.
Heiligabend kam.
Katrin hatte auch in den letzten Jahren immer Weihnachtsvorbereitungen machen müssen. Sie hatte gebacken und für das Weihnachtsessen gesorgt, sie hatte Geschenke verpackt und den Weihnachtsbaum geputzt, und selbstverständlich hatte sie es mit den Brüdern gemütlich gehabt. Aber hier war es ganz anders. Hier war eine ganze Familie beisammen, hier waren glückliche Kinder mit strahlenden Augen, hier war ein richtiges Zuhause mit Vater und Mutter, deren gute Herzen und sichere Hände alles zum besten lenkten.
Daß Beate „nur“ die Stiefmutter der vier ältesten war, das kam keinem in den Sinn, ebensowenig wie ihre eigenen Geschwister jemals darüber nachgedacht hatten, daß Katrins Mutter ihre Stiefmutter war. Wenn es ein Wort auf der Welt gab, das gründlich falsch war, dann war es das Wort Stiefmutter, dachte Katrin, oder richtiger: es hatte einen garstigen, falschen Unterton erhalten, der aus manchen Märchen stammte.
Sie tanzten um den Weihnachtsbaum. Der kleine Stephan war außer sich vor Wonne, und Hans Jörgen strahlte ebenfalls wie eine kleine Sonne. Als die Weihnachtsgeschenke verteilt waren, nahmen die Freudenschreie kein Ende. Katrin bekam ganz genauso viele und genauso hübsche Sachen wie die anderen - ja, sie bekam besonders viel, denn sie hatte außerdem Pakete von Haus Eschenheim und von Lena in Bergen bekommen. Pakete mit Kleidungsstücken und Büchern und Süßigkeiten und liebevolle Briefe. Sie war heilfroh über das, was sie selbst weggeschickt hatte. Beate hatte ihr geholfen, eine hübsche kleine Lampe für Andreas und Anja zu kaufen und nette Kleinigkeiten für die Familie in Bergen. Paul hatte sie ein Buch geschenkt, wie sie es auf Sentas Regal gesehen hatte, ein herrliches Werk über die wilden Tiere in Afrika.
Bernt strahlte über das ganze Gesicht wegen des schönen Geschenks von den Eltern - eine Heimleuchte für das Filmen. Er rannte weg, um seine Kamera zu holen, und stellte die Pracht auf, und nun wurde der kleine Stephan in einem Berg von Einwickelpapier auf dem Filmstreifen festgehalten, von
Spielzeugautos und Stofftieren umgeben - Bernt filmte sie alle beim festlichen Abendbrottisch, und ohne daß Hans Jörgen etwas davon ahnte, wurde er ebenfalls gefilmt, als er gerade seinen Vater bitten mußte, ein mechanisches Spielzeug für ihn zusammenzusetzen.
Katrin interessierte sich lebhaft für die Filmkamera. Bernt erklärte ihr bereitwillig die ganze Technik; Katrin nickte und stellte Fragen, die bewiesen, daß sie folgen konnte.
„Du bist ja das reinste Ingenieurtalent“, sagte Bernt voll aufrichtiger Bewunderung. „Bist du am Ende erblich belastet?“
„Ja, vielleicht“, sagte Katrin. „Mein Vater war Ingenieur. Und meine Brüder haben sehr viele technische Interessen, wenn sie auch ganz was anderes geworden sind, der eine Bankkaufmann und der andere Jurist.“
Bernt nickte. Er dachte an den Brief, den Beate ihm geschrieben hatte, nachdem Katrin gerade ins Haus gekommen war. Sie sei ein niedliches und liebes Mädchen, aber es gebe allerlei Probleme, und man merke es ihr an, daß sie trotz aller brüderlichen Liebe jahrelang ziemlich zu kurz gekommen sei. „Aber wir sind von dem Wunsch beseelt, ihr zu helfen“, schrieb Beate zuletzt.
Ja, wenn das stimmte, dann hatte ihre Hilfe bereits gründlich gewirkt, dachte Bernt. So wie Katrin jetzt war, gefiel sie ihm außerordentlich. Anständig und vernünftig und geradezu bescheiden und gleichzeitig zielstrebig - und völlig frei von Albernheiten und Flirt, frei von Schnoddrigkeiten und Gekicher, sie war so offen und natürlich wie ihr hübsches, klares Gesichtchen, das nie eine Puderquaste oder einen Lippenstift gekannt hatte.
Selbstverständlich sollte Katrin in der Welt vorwärts geholfen werden, dachte Bernt - und als erstes sollte sie das Mittelschulexamen machen, und zwar schon in einem halben Jahr, dafür würde er, stud. med. Bernt Christian Gerhard Rywig, einstehen.
Die Weihnachtstage flogen dahin.
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