Rywig 10 - Machst Du mit Senta
löste ein Problem für eine andere Dame, die einen falschen Schlüssel erwischt hatte, und nähte schnell einen Knopf an das Jackett von einem hilflosen Junggesellen namens Felber. Da ein paar der Gäste sich auf dem Hof befanden, wanderte ich zielbewußt in Heikos und Sonjas Zimmer. Da fand ich Heiko allein.
„Sonja ist rein zu dir gegangen“, verkündete er. „Sieh mal zu, daß ihr bald die Rollen tauscht, ich möchte gern die Nacht mit meiner eigenen Frau verbringen.“
„Das kann ich verstehen“, nickte ich. „Genau da beginnt die Grenze, nicht wahr?“ Ich machte die Tür auf und rief zurück ins Zimmer, so laut, daß die Gruppenteilnehmer da draußen es hören konnten: „Ich komme gleich, Liebling, ich laufe eben schnell rüber zu Senta!“
Dann bekam Sonja das Kopftuch und die Anstecknadel und ich war für den Rest des Tages entlassen. Was mir ehrlich gesagt eine Erleichterung war. Früher, als wir Schulmädchen waren und im Elternhaus wohnten, war es ganz einfach, die Rollen zu tauschen. Damals waren wir immer zusammen, erlebten dieselben Dinge, hatten gemeinsame Freunde und Freundinnen. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, als mir diese Idee kam, daß ich in die Haut eines Menschen schlüpfen mußte, der beinahe vier Jahre in Afrika verbracht hatte, der im Mary-Green-Institut arbeitete, der in Australien gewesen war, fließend Englisch sprach, und außerdem Suaheli! Auf der Busfahrt von Calgary hatte schon wieder eine freundliche Dame angefangen, sich mit mir privat zu unterhalten, und ich wurde nur dadurch gerettet, daß Herr Weiden das Mikrofon ergriff und uns etwas über die Gegend erzählte, die wir gerade durchfuhren. Was an sich interessant genug war! Wir befanden uns jetzt mitten in den Rocky Mountains. Der Ort Banff liegt am Ufer des Flusses Boul, was in der Indianersprache „Bogenfluß“ bedeutet. Um uns hohe Berge, unglaublich hoch, die oft an die Dolomiten erinnerten. Wir waren in der „Faltenzone“ - man könnte sich denken, daß eine Riesenhand einen Griff um die ganze Westküste von Nordamerika getan und alles zusammengedrückt hatte, so daß diese enormen Berge und die tiefen Täler entstanden.
Ich freute mich auf den morgigen Tag! Dann würde ich ein freier Mensch sein, konnte alles Schöne in mich aufnehmen, und mich darüber freuen, daß ich auf der anderen Seite des Erdballs war, und so viel Neues erleben durfte.
Und morgen würde Rolf kommen! Das war das allerbeste!
Wie war ich froh, und dem Schicksal unendlich dankbar, erstens, weil Rolf diese einmalige Gelegenheit hatte, um mit bekannten Kollegen zusammenzukommen und mit ihnen zu reden - und zweitens, daß es uns vergönnt wurde, eine solche Reise zu machen!
Ich saß auf der Türschwelle meines kleinen Appartements und freute mich über den schönen Sonnenuntergang. Eine wohltuende Ruhe war über mich gekommen. Ich dachte an meinen kleinen Gerry, der so gut aufgehoben war - ich dachte an meine lieben Eltern, an meine Geschwister, und war von einer großen Zärtlichkeit erfüllt. Wie hatten wir es gut zusammen! Was hatten doch mein Papa und meine geliebte Beatemutti uns alles gegeben! Diese Harmonie, dieses volle gegenseitige Vertrauen, dieses schöne Elternhaus. „Senta! Wir müssen Essen gehen!“
Es war Sonja, die mich aus meinen Gedanken riß. Ich bürstete die Haare, nahm meine Handtasche, schloß die Tür ab und ging mit.
Am folgenden Tag machten wir einen schönen Ausflug am Fluß entlang, in eine Gegend, wo wir wildlebende Bisons sahen. Heiko erzählte von dem furchtbaren Schicksal dieser herrlichen Tiere, wie sie im vorigen Jahrhundert ganz einfach niedergemetzelt wurden, beinahe ausgerottet - und wie sie im allerallerletzten Augenblick gerettet wurden. „Genau wie die Koalas in Australien!“ nickte Sonja.
Nachher fuhren wir zu einem Indianermuseum, anschließend machten wir „Shopping“ und kauften Reisemitbringsel. Es war ein Geschäft voll Indianerspezialitäten - Holzschnitzereien, Glasperlenschmuck und phantasievoll ausgestattete Mokassins, auch für Kinder.
Die waren zu niedlich! Ich kaufte ein kleines Paar für Gerry, und Sonja suchte zwei noch kleinere Paare für ihre Zwillinge aus.
Welches Glück, daß ich heute keinen „Dienst“ hatte! Im Andenkenladen kam der eine nach dem anderen zu Sonja und bat um sprachliche Hilfe. Du liebe Zeit, wenn sie mich gefragt hätten, wie ,kochfest’, ,Briefbeschwerer’, ,farbecht’ und ,buntbestickt’ auf englisch heißen, wäre ich restlos
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