Saat der Lüge
nostalgischer Zuneigung an der Vorstellung fest, die ich von Mike und mir hatte, streichelte und polierte sie von Zeit zu Zeit, hegte und pflegte sie mit unsichtbaren Händen in der Dunkelheit, wo sie sich nie verändern oder den Fragen des Tageslichts stellen musste.
Als wir in jener einzigen Nacht vor langer Zeit unsere eigenen Regeln brachen und miteinander Sex hatten oder uns liebten, oder wie auch immer man es nennen möchte, war ich zum ersten Mal sauer auf ihn. Er hatte sein übliches Muster durchbrochen, hatte mich in die Irre geführt, hatte ein unehrliches Gesicht aufgesetzt, war meinen Erwartungen nicht gerecht geworden. Indem er Cora betrogen hatte, hatte er auch mich betrogen und mein Ideal von der unangreifbaren Liebe verraten. Wenn die Liebe nicht so war, wollte ich sie nicht haben. Wenn er bei ihr nicht alles zu geben bereit war, durfte er sich auch bei mir keine Hoffnungen machen. Erst später lernte ich, dass man sich manchmal nach einer kleinen Regelverletzung sehnt. Aber da war es bereits viel zu spät.
Großbuchstaben
I ch versuche wohl nur zu erklären, warum ich beschloss, meine beste Freundin umzubringen. Wenn Cora nur damit gedroht hätte, mich bloßzustellen und mir wehzutun, hätte ich den Gedanken, der im Laufe des Winters in meinem Kopf Form angenommen hatte, bestimmt nicht ertragen. Aber sie drohte auch damit, Mike ins Verderben zu reißen, ihn mir zumindest wegzunehmen. Und uns damit ein Ende zu setzen.
Ich besaß doch ohnehin nur einen so kleinen Teil von ihm, und selbst der bestand hauptsächlich aus Erinnerungen. Ich konnte ihn nicht einfach aufgeben und so tun, als sei nichts gewesen – nicht nach allem, was passiert war.
Das wäre so gewesen, als hätte ich mir tief ins eigene Handgelenk geschnitten und wäre anschließend zur Tagesordnung übergegangen, während hinter mir eine blutige, klebrige Spur zurückblieb und mein Leben langsam erlosch.
Letztlich hatte ich sogar akzeptiert, dass Mike eine Affäre mit Jenny gehabt hatte. Oder zumindest mit ihr geschlafen hatte. Vielleicht, nur vielleicht, musste ich auch akzeptieren, dass er etwas sehr viel Schlimmeres getan hatte.
Er hatte sie nach Hause gebracht – und am nächsten Tag war sie tot gewesen. Wirklich nur ein Zufall? Das Überraschende war, dass mich das inzwischen gar nicht mehr interessierte. Cora war jetzt die Spielverderberin, nicht Mike.
Ich weiß, dass das teilweise meine Schuld war. Ich hätte ihr nicht vom Currymann erzählen dürfen. Denn mit diesem einen simplen Teilgeständnis hatte ich ihr etwas gegeben, das sie nie zuvor besessen hatte: Macht. Wie konnte ich erwarten, dass sie nicht davon Gebrauch machte? Jetzt, wo sie über dieses Wissen verfügte, zählte alles andere plötzlich nicht mehr: dass ich allgemein als hübsch galt und sie nicht, dass die Männer mir auf der Straße hinterherpfiffen und sich in Bars und Geschäften nach mir umdrehten, dass ich eine steile Karriere in einem vermeintlich aufregenden und lukrativen Beruf hinlegte, dass ich gescheit und witzig war und meine Liebe für Literatur, Theater, Kunst und Musik mit ihrem Mann teilte.
Bisher hatten diese Vorzüge den Vorteil gehabt, dass ich ganz bequem und ohne die geringste Bedrohung ihre Freundin sein konnte, dass ich sie bei Laune halten und ihr Ratschläge geben konnte, ohne dass mein Vertrauen in sie je Kratzer bekam. Welchen Grund hätte ich auch haben sollen, mich vor Cora zu fürchten?
Aber mit dem Eingeständnis meiner Schweigegeldzahlung hatte ich mich selbst mit einem Verbrechen in Verbindung gebracht, so geringfügig es auch sein mochte. Das war der Schwachpunkt, nach dem sie immer gesucht hatte, der Riss, den sie ausweiten konnte, indem sie Druck auf ihn ausübte. Ich hatte einen Mann dafür bezahlt, dass er das, was er angeblich über Jennys Tod wusste, für sich behielt. Genau genommen war das Behinderung der Justiz, dafür konnte mich die Polizei drankriegen. Ich hatte Informationen über Jennys Aufenthaltsort zurückgehalten, über ihre letzten Stunden. Preisgekrönte Journalistin in Erpressungsskandal verwickelt. Eine sperrige, eher unwahrscheinliche Schlagzeile, aber vielleicht eine Story wert – natürlich nur an einem ruhigen Tag.
Auf jeden Fall würde es mich meinen jetzigen Job kosten und, wichtiger noch, den Job, den ich in Aussicht hatte. DEN Job. Den Job, auf den ich gewartet und für den ich mit Stift und Papier gekämpft hatte, seit ich sechzehn war. Den Job, der mich wirklich nach vorne brachte, nach
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