Saat der Lüge
denen ich normalerweise schreiend die Flucht ergriffen hätte.
Aber an diesem Abend konnten mir nicht einmal die schwankenden Frauen mit ihren zurückgekämmten, blond gefärbten Haaren, die an den Spitzen so spröde waren wie zerknittertes Seidenpapier, die Laune verderben oder die Männer in ihren zu engen T-Shirts oder karierten Hemden, mit ihren Stiernacken und dicken Oberarmen und Bierbäuchen und auffälligen Tätowierungen. In Mikes und Stevies Gegenwart amüsierte ich mich endlich einmal wieder königlich, und es warteten immer noch ein weiteres Tänzchen, noch eine weitere Runde Drinks auf uns.
Ich übernachtete bei Stevie, auf dem Feldbett in seinem Arbeitszimmer, während Mike sein Lager auf dem Sofa aufschlug.
Mit einem letzten Jack Daniel’s in der Hand plauderten wir noch ein wenig über die bevorstehende Hochzeit, aber nicht allzu viel. Mike schien ganz überwältigt zu sein von den vielen Plänen und Vorbereitungen, aber vielleicht wollte er auch nicht zu viel verraten. Cora hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass die Hochzeitsfeier eine einzige große Überraschung werden sollte, und es galt strengste Geheimhaltung, bis der große Moment gekommen war. Darauf hatte sie ihr ganzes Leben lang gewartet: die Hauptrolle zu spielen, im Mittelpunkt zu stehen. Nichts und niemand durfte ihr das verderben.
Mike und ich saßen an entgegengesetzten Enden der weichen Couch, den Rücken an die Armlehne gestützt, die Beine übergeschlagen. Unsere Socken berührten sich fast. Stevie hatte sich uns gegenüber auf dem Sessel ausgestreckt und bildete den dritten Winkel unseres Dreiecks. Wir machten uns gut als Dreieck. Lächelnd, ungezwungen und nachsichtig sprachen wir über die Hochzeit und beschworen Visionen von Satinwesten und glänzenden Roben, Salatgabeln und Tischdekorationen herauf. Alles war gut. Alles war so, wie es sich gehörte.
Dann kam der Song. Blur. Damon Albarns Stimme im Halbdunkel, die plötzlich die Wände hinabglitt, unter unseren Füßen hindurch, zwischen die Weingläser und zur Tür hinaus, die langsam dahintrieb, während die Welt um uns herum verschwamm. To the end.
Der Text kam mir so persönlich vor, dass Tränen in mir aufstiegen, von deren Existenz ich gar nichts gewusst hatte. Ich schluckte sie hinunter, und meine Kehle brannte. Mike hatte sich an seinem Ende des Sofas zusammengerollt. Bis zur Hochzeit waren es nur noch drei Monate. Das Ende rückte immer näher.
Die Melodie nahm mich mit auf eine absurde, schwindelerregende Karussellfahrt durch die Zeit. Der Text schien speziell für uns geschrieben zu sein und war dabei doch so grausam, dass ich es nicht länger aushielt und Mikes Blick suchte.
»Tanz mit mir«, sagte er, als wüsste er, dass ich Nein sagen würde. Sanft streckte er die Hand mit den langen Fingern nach mir aus. Niemand außer Stevie konnte uns sehen. Es schien ausnahmsweise einmal nur um unsere eigenen Bedürfnisse zu gehen.
Keiner von uns sagte etwas. Wir, die wir sonst so viele Wörter aus so vielen Jahrhunderten teilten, Wörter, die für Cora unerreichbar blieben, die sie nicht verstand, brauchten in diesem Moment keine Worte. Ich stand auf.
Er war so warm, so anders als jeder andere, den ich kannte. Sein Duft stieg mir in jede Pore, drang durch den weichen Stoff seines Hemdes. Ich fühlte mich zwergenhaft klein in seiner großen, breitschultrigen Gegenwart, neben seinem kantigen Körper. Sicher und beschützt. Meine Wange reichte ihm gerade bis zur Schulter, was mich überraschte. Von weitem wirkte er meist gar nicht so groß. Ganz langsam bewegten sich unsere Füße zur anschwellenden und wieder abfallenden Melodie, in immer kleineren Kreisen, als tanzten wir im Lichtkegel eines Schweinwerfers, der schrumpfte und schrumpfte, bis wir schließlich stehen blieben, um nicht endgültig ineinander zu verschwinden.
Mit der einen Hand umklammerte er meine Taille, die andere lag so fest an meinem Hals, dass ich mir vorstellte, wir würden uns auflösen und in den Teppich fließen oder auf der Stelle zu einem Häufchen mehlfeinen Staubs herabrieseln. Ich wünschte mir zu ersticken, um nie wieder etwas anderes atmen zu müssen. Wie viel einfacher wäre das gewesen! Unsere Finger verschränkten sich, öffneten und schlossen sich wieder, flatterten wie ein Schmetterling, der zwischen unseren Handflächen eingesperrt war. Er murmelte etwas. Meinen Namen, glaube ich.
Als der letzte Beat verklungen war, verharrten wir in dem Bewusstsein, dass die Tür zu jenem
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