Saat der Lüge
anderen Ort noch immer halb offen stand. Stevie war nicht mehr da.
War er das, der Moment, in dem wir alles hätten ändern können? Die Hochzeit verhindern, einen anderen Pfad einschlagen? Die Nacht beim Schopfe packen und alle, die noch folgen würden? Tickend verstrich die Ewigkeit und hallte in meinem Kopf wider. In Wirklichkeit war wohl nicht mehr als eine Minute vergangen.
Irgendwann sagte ich: »Ich gehe ins Bett.« Während wir uns noch im Arm hielten. Während ich noch sprechen konnte. Mike sagte nichts. Nach einem kurzen Moment ließ er mich los. Er ließ mich gehen.
Ich ging also und betete. Damals hätte ich behauptet, dass ich betete, er werde nicht nachkommen.
Welche Lügen sind die schlimmsten? Die, die wir anderen erzählen? Die, die wir uns selbst erzählen? Oder die, die wir leben? Wir waren vielleicht fünf Mal in unserem Leben allein miteinander gewesen, wirklich allein, und nicht ein einziges Mal hatte ich gesagt, dass ich ihn liebte. Wir hatten also keinen Schaden angerichtet, oder? Hatten niemanden verletzt außer uns selbst?
Meine Großmutter hat immer gesagt: »Gib den Menschen zu viel Seil, und sie hängen sich daran auf.« Aber wie viel ist zu viel? Ich sehe sie vor mir, wie sie rund und gemütlich in ihrem alten, abgenutzten Sessel am Fenster sitzt, im grauen Sonntagslicht: weißes Haar, cremefarbene Strickjacke, Füße, die kaum den Boden berühren.
»Jongliere nie mit den Herzen der Menschen, Elizabeth. Das Herz, das du fallen lässt, ist höchstwahrscheinlich dein eigenes.« Aber sie war so alt. Was konnte sie mir schon von der Liebe erzählen?
Hatte ich je nachts im Dunkeln gesessen und mich gefragt, ob ich in ihn verliebt war? Nicht wirklich. So konkret hätte ich mir diese Frage früher nie gestellt. Wir steckten viel zu tief drin in der Blutbahn dessen, was wir für unser Leben hielten, um unsere Gefühle in eine Affäre münden zu lassen. Das ging nicht, ohne Venen zu verletzen und Blutungen zu verursachen, die wir nicht überlebt hätten. So schien es uns zumindest.
Habe ich je darüber nachgedacht, ihm meine Gefühle zu gestehen? Natürlich nicht. Ich wusste ja selbst kaum, was ich fühlte. Außerdem wäre mir das ungehörig vorgekommen. Dieses Wort mag bizarr wirken, weil es an steife Krägen, gestärkte Hemden und Fußknöchel denken lässt, die unter kratzigen Petticoats hervorblitzen, aber es passt. Mike gehörte Cora, und damit basta. Sie hatte auf ihm ihr Territorium abgesteckt, er war von ihr beanspruchtes Land, da war keine Stacheldrahtumzäunung oder Flagge nötig, die vor dem Hintergrund eines wechselhaften Himmels wehte. Man konnte ihn nur kurzzeitig annektieren für jene flüchtigen, seligen, verheißungsvollen Augenblicke, wenn wir in aller Öffentlichkeit die Hände ausstreckten, um die Kluft zwischen uns zu überbrücken. Überrennen und bezwingen konnte man ihn nicht. In meiner Naivität kam mir nicht in den Sinn, dass er sich vielleicht genau das wünschte.
Ich war nicht im eigentlichen Sinne eifersüchtig auf Cora. Ich könnte nie so eifersüchtig auf Cora sein, wie ich es inzwischen auf Jenny war, die Jenny aus meiner Fantasie. Weil Cora und Mike eine feste Größe innerhalb meines Universums waren. Sie gehörten zusammen, in jedem Sinne, in jedem Alter, mit allen Gesichtern. Von ihren Bettgeheimnissen konnte ich freilich nichts wissen, ihren Händen und Mündern im Dunkeln, den Seufzern und lebenslänglichen Versprechen, die sie sich dort gaben, die nur sie miteinander teilten.
Cora wiederum konnte nicht zu den auf Papier gebannten Orten intellektueller Verführung vordringen, die ich mit Mike teilte, zu den verborgenen Welten, die die Bücher, die wir so liebten, auf wundersame, unbefangene Weise zwischen dem ersten Absatz und dem letzten Satzzeichen heraufbeschworen. Diese Art der Verführung erblühte im Schmutz und Nebel des Dickens’schen London, auf den extravaganten Gartenempfängen des Grafen von Monte Christo, entlud sich im Feuerwerk vor dem großen Finale, kostete von der Intimität der Marktplätze Thomas Hardys, trieb sich zwischen Mägden, Schafen und wogenden Getreidefeldern herum. Sie zeigte sich in Sylvia Plaths schneidenden Anklagen und Dostojewskis moralischen Dilemmata, umfasste Dylan Thomas’ »hässliche, liebenswerte Stadt« ebenso wie Don Quijotes staubige Ebenen, fegte ins Herz eines Sherlock-Holmes-Krimis, erfasste Kaffeebecher und Injektionsspritzen.
Für uns war sie genauso real wie alles andere.
Und so hielt ich mit
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