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Saat der Lüge

Saat der Lüge

Titel: Saat der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Jones
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neues Lieblingsbuch. Anscheinend hatte er seine Handschuhe vergessen, denn er sagte etwas Banales wie: »Mann, sind meine Finger kalt, richtige Eiszapfen, fühl mal!« Ich streckte also mechanisch die Hände aus, als ich vor ihm zum Stehen kam, und unsere Finger schlossen sich umeinander und um das Buch.
    Eine Kehrmaschine rumpelte vorüber und sog mit kreisenden Bürsten Abfälle in ihr Inneres, während wir eine gefühlte Ewigkeit unter der Statue von Aneurin Bevan standen, dessen Messingkopf wie immer mit Möwenkot bekleckert war.
    Die Straße verschwand und wurde ruhig, und mein Kopf kam zum Stillstand, und ich lächelte. Er lächelte auch. Mit einem plötzlichen Ruck war ich wieder da, zurück in meinem Körper, wieder ganz ich selbst. Zum ersten Mal seit wie langer Zeit? Seit Monaten, Jahren, Jahrzehnten, Äonen? Ich spürte, dass mein linker Schuh drückte und die Straßenkälte durch die dünner werdende Sohle kroch. Eine Haarsträhne kitzelte meine linke Wange. Meine Nase würde gleich anfangen zu laufen.
    Er sagte: »Deine Haare sehen aber hübsch aus, Lizzy.«
    Wir redeten nicht über Cora.
    Und ich antwortete: »Danke, Mike.«
    Wir redeten nicht über neulich Abend.
    »Ich bin so gespannt, was du davon hältst«, schwärmte er und schwenkte das Taschenbuch. » Eine Amerikanische Tragödie von Theodore Dreiser . Einfach phänomenal! Starbucks?«
    Ich nickte ganz leicht und sagte: »Warum nicht?« Und er wiederholte: »Ja genau, warum eigentlich nicht? Mag die Globalisierung noch so schlecht sein, was zählt, ist der Verbraucherwille!« Und ich antwortete: »Hör auf, dich über mich lustig zu machen!«
    Da war er plötzlich – der Schauder, der durch jedes winzige, blonde, beinahe unsichtbare Härchen meiner Hand in meine Gliedmaßen schoss, bis zu meinem Herzen und zu einer tieferen Stelle, warm und rein, beängstigend und schuldbewusst, wunderbar.
    Irgendwann zwischen dem Tag, an dem wir unsere Studentenbude verlassen hatten, blutjung und ohne seelische Narben, mit Armen voller Bücher und Poster und Beteuerungen, uns gegenseitig zu besuchen, und jenem Tag vor Gericht, bei dem ich zum ersten Mal meine Qualitäten als Reporterin unter Beweis gestellt hatte – ein grausamer Vergewaltigungsfall, bei dem Küchengeräte und Margarine im Spiel gewesen waren –, war ein Teil von mir gestorben, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass er krank war und dahinsiechte, dass er keuchte und schrie. Es war jener Teil von mir, den er allein mit seinem Lächeln emporgehoben hätte, hoch hinaus über die Welt.
    Warum war mir nie aufgefallen, dass mein Leben nur dadurch, dass ich Mike kannte, so reich war, dass ich in der Lage war zu berühren und zu schmecken und zu riechen und zu denken und zu fühlen und zu vögeln – alles auf einmal oder nichts?
    Warum habe ich mir diese Frage erst nach Jenny gestellt, als es längst viel zu spät war? Hatte es irgendwann einen Moment gegeben, an dem wir unser Schicksal hätten ändern können? An dem wir uns gegenseitig packen und mit Vollgas in die andere Richtung hätten rennen können, mit fliegenden Füßen und keuchendem Atem, über die Erde, unter der Sonne und durch alles, was dazwischen lag?
    Vielleicht.
    Wenn es so einen Moment gegeben hat, dann war es dieser:
    An einem Wochenende, als Cora und Mike noch in Chester wohnten – ein paar Monate vor ihrer Hochzeit –, war Mike nach Cardiff gekommen, um Stevie zu besuchen. Pulp spielte in der Cardiff International Arena, und es verstand sich von selbst, dass wir Karten kauften für die Band, die den Soundtrack zu unserer Jugend geliefert hatte, zu all den Momenten, in denen wir in eigene und andere Rollen geschlüpft waren, um herauszufinden, wer wir waren.
    Cora war in letzter Minute abgesprungen, weil sie sich auf einen Unterrichtsbesuch vorbereiten musste.
    Nach dem Konzert torkelten Mike, Stevie und ich Arm in Arm ins Zentrum und imitierten dabei beschwingt Jarvis Cocker, indem wir mit Ellenbogen und Fingern herumfuchtelten, so gut es mit untergehakten Armen ging.
    Wir waren uns einig, dass Cora eine Wahnsinnsshow verpasst hatte, und ich fügte hinzu, wie schade es doch sei, dass sie nicht auch hier sein konnte und dass es ohne sie nicht dasselbe war. In dem Moment meinten wir es wirklich so.
    Mike nahm meine Hand, als wir auf Sam’s Bar zusteuerten, jene längst verloren geglaubte, schäbige Spelunke, die in ihrer eigenen Zeitschleife festzustecken schien und mich an die Pubs aus meiner Heimat Rhondda erinnerte, vor

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