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Saat der Lüge

Saat der Lüge

Titel: Saat der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Jones
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keine Gedanken, Liebes. Wenn wir über sie reden, bleibt sie wenigstens ein bisschen bei uns, nicht wahr?« Sie platzierte ein paar liebevolle Hundeklapse auf dem Oberschenkel ihres Mannes und dann ein paar weitere auf dem Hund. »Sie wissen doch, wie Männer sind. Immer versuchen sie, stark zu sein, bis sie irgendwann einfach in sich zusammenfallen. Sie war unsere einzige Enkeltochter, wissen Sie. Wir haben drei Enkelsöhne von unserem Sohn, die wir natürlich über alles lieben, aber sie war eben Opas kleiner Liebling.«
    »Ja, das war sie. Das war sie«, schnaufte er. Der Hund bekam einen Keks.
    »Ihren Vater haben wir auch schon jung verloren. War erst siebenundvierzig. Jenny war dreizehn. Lynne hat sie dann mit zurück nach Wrexham genommen, aber wir haben sie trotzdem oft gesehen – sie hat alle Schulferien und Semesterferien hier verbracht. Das muss man Lynne zugestehen: Sie war so anständig, den Kontakt nie abreißen zu lassen. Dabei hätte sie ja auch irgendwie komisch werden können, die beiden hatten nämlich eine eher durchwachsene Ehe, müssen Sie wissen. Sie hat sich hier nie besonders wohl gefühlt, aber komisch ist sie trotzdem nicht geworden. Das letzte Mal war Jenny in dem Sommer hier, als sie nach Cardiff zog und auf Wohnungssuche war. Unglaublich, dass das erst ein gutes Jahr her ist! Sie war furchtbar aufgeregt, weil es ihr erster richtiger Job war und weil sie endlich in die Großstadt ziehen würde, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Wir haben uns natürlich Sorgen um sie gemacht, ganz allein an so einem gefährlichen Ort. Man liest ja immer diese schrecklichen Geschichten in der Zeitung, aber das wissen Sie natürlich am besten. Aber was will man machen? Man kann sie ja nicht für immer in Watte packen. Jenny kannte noch niemanden in Cardiff, aber sie sagte, sie würde bestimmt schnell Freunde finden. Außerdem sollte sie für die gleiche Firma arbeiten wie schon in Wrexham. Immerhin etwas. Wir dachten, sie wird schon zurechtkommen.«
    Sie lehnte sich verschwörerisch vor und senkte die Stimme zu einem vernehmlichen Flüstern: »Ich glaube, sie hat dort unten einen Freund gehabt und wollte es nur nicht sagen. Als ob wir früher nicht unseren Spaß miteinander gehabt hätten! Aber Jenny war in dieser Hinsicht ein bisschen schüchtern und hatte es noch nicht so mit Jungs. In der Hinsicht war sie eine Spätentwicklerin.«
    Plötzlich wurde sie wehmütig, und ich befürchtete schon, sie würde ebenfalls in Tränen ausbrechen, jetzt, wo ihr Mann gerade aufgehört hatte. Dann hätten wir alle zusammen geheult. Aber der Moment ging vorüber, und sie seufzte und kam dann zu dem Schluss: »Wenigstens ist sie jetzt bei ihrem Dad.«
    Da war es wieder. Das Stilllegen, das Abschalten. Die Resignation der Armen und Bescheidenen. Die Entschlossenheit zu akzeptieren, dass das Leben – ihr Leben – nun mal aus Mühsal und Verlust bestand und es vermessen war, auf etwas Besseres zu hoffen. Die Entschlossenheit, eine übergeordnete Instanz zu akzeptieren, um nicht die offensichtliche Frage stellen zu müssen: Warum musste das so sein, und wer sorgte dafür, dass es so bleibt? Während des Steinkohleabbaus hielt diese Resignation jahrzehntelang ganze Gemeinden am Laufen, bis die Kirchen schließlich zugenagelt und in Sozialwohnungen umgewandelt wurden, in denen es nach Urin stank, oder in Gemeindezentren, in denen das Absatzgeklapper der Line-Dance-Kurse widerhallte. Einen Moment lang beneidete ich diese Leute um ihre Naivität und Ahnungslosigkeit.
    »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir ein paar Sachen in dem Ordner genauer ansehe? Nur, damit ich ein Gefühl für Jenny bekomme und besser über sie schreiben kann«, beschwatzte ich die beiden. Der klassische Türöffner für Leute wie mich, um an die privaten Hintergrundinformationen zu kommen, über die Leute wie Sie gerne lesen.
    »Natürlich, Liebes. Ach ja: Wir haben auch noch einen ganzen Stapel Kisten von ihr im Gästezimmer, falls Sie einen Blick hineinwerfen wollen. Ich glaube, da sind noch mehr Aufsätze von ihr drin. Die stehen schon seit Jahren dort.«
    Normalerweise hätte ich dankend abgelehnt. Was für einen Sinn hat es, Kisten mit fünfzehn Jahre altem Krempel zu durchwühlen, wenn man bereits die Fotos hat, für die man gekommen ist? Aber sie war so stolz und glücklich darüber, dass sich noch jemand dafür interessierte, dass ich es nicht übers Herz brachte, ihr zu sagen, dass sicher nichts davon in der Zeitung erscheinen würde.

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