Saat der Lüge
gehobenen Mittelschichtfamilie auf viel zu engem Raum zusammengezwängt.
Auf dem Kaminsims tickte eine teure Reiseuhr. »Cora sagt, du stammst aus den walisischen Tälern, Elizabeth? Das hört man dir überhaupt nicht an!«, erklärte Phillippa beim Servieren des Lachses, während Cora mir über den Tisch hinweg einen entschuldigenden Blick zuwarf. »Du bist ganz anders, als ich mir ein Mädchen aus den Tälern vorgestellt hätte. Aber Cora hat mir natürlich schon alles über dich erzählt.«
Mit widerwilliger Anerkennung musterte sie mich von Kopf bis Fuß. Scheinbar übertraf ich die geringen Erwartungen, die sie mit dem Tonfall, mit dem sie »Täler« aussprach, zum Ausdruck brachte. Ich glaube noch nicht einmal, dass es unhöflich gemeint war. »Cora könnte sicher den ein oder anderen Tipp von dir vertragen. Ihr kleidet euch ja heutzutage sowieso alle wie Schulabbrecher. Das ist mittlerweile Standard, egal, woher man kommt. Aber du hast eine gute Körperhaltung, und eine schöne Haut hast du auch. Cora hingegen habe ich nie dazu bewegen können, sich auch nur die geringsten Gedanken um ihr Äußeres zu machen.« (Jetzt war ich an der Reihe, mich mit den Augen bei Cora zu entschuldigen.) »Du erwägst also, Journalistin zu werden?«
Wie die meisten Menschen betrachtete auch Phillippa Journalismus als gleichzeitig glamouröse wie geschmacklose Tätigkeit. Obwohl sie durch kleine Nebenbemerkungen klarstellte, dass sie nichts von Leuten hielt, die ihre Nasen in anderer Leute Angelegenheiten steckten, gab sie Cora zu verstehen, dass der Berufszweig, den ich mir ausgesucht hatte, dem einer einfachen Lehrerin immer noch vorzuziehen sei. Dabei ließ sie allerdings unerwähnt, dass sie selbst aus finanziellen Gründen gezwungen gewesen war, eine Teilzeitstelle als Sekretärin an Coras ehemaliger Privatschule anzunehmen. Vielleicht war das etwas anderes, weil es dort exklusiver zuging und sie mit einer höheren Gesellschaftsschicht verkehrte.
Von diesem Abend an tat mir Cora ein wenig leid. Was für eine verbitterte alte Hexe ihre Mutter doch war. Wäre Cora bei mir zu Gast gewesen, hätte meine Mutter zur Feier des Tages einen anständigen Pullover von Marks & Spencer angezogen, eine bunte Schürze umgebunden und uns überbackene Makkaroni gemacht, während sie fröhlich um Cora herumgewuselt wäre, um ihr Fragen zu ihren Vorlesungen und ihren Eltern zu stellen und mich zwischendurch über den grünen Klee zu loben. Das wäre mir zwar ein bisschen peinlich gewesen, aber Schürze hin oder her, meine Mutter hatte deutlich bessere Manieren als Phillippa.
Zum ersten Mal ging mir auf, dass Cora und ich doch etwas Entscheidendes gemeinsam hatten, etwas, das in den zwölf Monaten, die wir uns kannten, alles andere überragt hatte: Ich war nicht die Einzige, die auf die eine oder andere Weise ihrer Herkunft zu entfliehen versuchte. Sie hatte mich genauso gesucht wie ich sie, auch wenn uns das gar nicht bewusst gewesen war. Wir beide hatten versucht, uns neu zu erfinden – und das war uns auch gelungen. An diesem Wochenende verstand ich, dass wir von nun an zusammengehörten und dass diese Zusammengehörigkeit alles war, was wir brauchten. Und nichts und niemand konnte das ändern.
Insiderwissen
A chteinhalb Jahre später saß ich an meinem Schreibtisch in der Redaktion und suchte Zuflucht in diesen Erinnerungen, damit sie mich wieder aufrichteten und ich tun konnte, was ich tun musste, und sein konnte, wer ich sein musste – eine coole, beherrschte Journalistin, die abgebrüht und unbeteiligt ihre Story über ein totes Mädchen schrieb und nicht darüber nachdachte, wie es dazu gekommen war, dass Mike, Cora, Stevie und ich plötzlich Teil dieser Story waren.
Noch bevor ich mir überlegen konnte, wie ich dem Arschloch entwischen und mich zum »Kontaktaufbau« oder zur »Recherche« (also zu einem ausgedehnten Pubbesuch) aus dem Staub machen konnte, klingelte das Telefon. Am Apparat war ein Bekannter, der im Archiv der Polizeihauptwache arbeitete und eine wichtige Information für mich hatte: Die Kripo hatte Mike im Büro aufgesucht und ihn im Zusammenhang mit gewissen neueren Entwicklungen zum Fall Jenny befragt.
Von dem jungen Polizisten, der mich nach der Eröffnungsverhandlung angesprochen hatte, erfuhr ich am nächsten Tag, worum es sich bei diesen Entwicklungen handelte. Dass wir uns erneut bei Gericht über den Weg liefen, war früher oder später zu erwarten gewesen. Was mich nervös machte, war seine
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