Saat der Lüge
alter Gewohnheit gedanklich zu einem Nachrichtenbeitrag und packte die heißen Informationen ganz nach oben. Zualleroberst kam die entscheidende Neuigkeit: Ein Mann war in der Wohnung des toten Mädchens. Das musste Mike gewesen sein, wer sonst? Und wenn ich das wusste, dann wusste es die Polizei auch, zumindest wenn sie eine Verbindung zwischen den beiden hergestellt und von der Nacht im Charlie’s erfahren hatte.
Ich suchte Halt am Tisch und gab vor, die Aussicht aus dem Fenster zu bewundern. In diesem Moment sah ich ihn. Es war nichts Verräterisches daran, es war nur ein einfacher Füllfederhalter, der der Polizei keinen zweiten Blick wert gewesen wäre. Das Problem war nur, dass ich ihn kannte. Ich hatte ihn selbst gekauft. Zusammen mit Cora. Für Mike. Zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag.
Er lag in einer Ausgabe von T. S. Eliots gesammelten Gedichten, die auf der Seite mit J. Alfred Prufrocks Liebesgesang aufgeschlagen war, einige Zeilen waren unterstrichen. Das war immer Mikes und mein Lieblingsgedicht gewesen.
Ich fand Harriet auf Anhieb unsympathisch. Sie erschien in diesem Moment im Türrahmen und war genau die Art von aufreizend selbstsicherem Mädchen mit verschlagenem Blick, die ich schon auf dem College gehasst hatte und mit der ich nur äußerst ungern die Wohnung geteilt hätte. Sie trug schwarze Leggings unter einer schwarzen Tunika, zu viel schwarzen Eyeliner und Haare, die in allen erdenklichen Braun- und Schwarztönen gefärbt waren.
Als sie sich mit ihren gut fünfzehn Kilo Übergewicht auf dem Sofa niederließ, stellte sie eine beachtliche Anzahl von Speckröllchen zur Schau, die jedes Mal miteinander kollidierten, wenn sie sich vorbeugte, um ihre Zigarette in einem aus dem Pub geklauten Aschenbecher abzustreifen und dabei die Tätowierungen zu entblößen, die sich um ihr Handgelenk rankten. Der zweite Satz, den sie nach der Begrüßung zu Mrs Morgan sagte, war: »Jenny schuldet mir übrigens noch 150 Pfund Miete, und der Wodka gehört eigentlich mir, kann ich den mitnehmen?«
Mir war sofort klar, wohin Jennys Schmuck verschwunden war. Auch die Kleider, die laut Pressemitteilung gefehlt hatten, als Jenny vermisst gemeldet wurde, waren aller Wahrscheinlichkeit nach nicht weit. Harriet musterte mich skeptisch von Kopf bis Fuß, teilte mir aber bereitwillig mit, was sie wusste. Sie schien sogar regelrecht darauf erpicht zu sein.
Gegen zwei Uhr nachts hatte sie gehört, wie Jenny mit einer anderen Person nach Hause gekommen war. Die beiden waren zunächst ein wenig vor der Tür herumgestolpert, als wären sie betrunken, dann hatte sie Jenny im Flur lachen hören. Leider hatte die entzückende Harriet ungefähr zwölf Flaschen Bacardi Breezer getrunken und dann noch ein paar Pillen eingeschmissen, die ihr Freund ihr gegeben hatte. Anschließend hatte sie sich im Badezimmer übergeben und hatte auf ihrem Bett das Bewusstsein verloren. In unregelmäßigen Abständen war sie aufgewacht und hatte eine tiefe Stimme aus Jennys Zimmer gehört, eine Männerstimme, und später die Haustür, die auf und zu ging, vielleicht sogar mehrmals. Genau das hatte sie auch der Polizei erzählt, und das war alles, was sie wusste.
»Bekomme ich jetzt Geld dafür?«, wollte sie wissen.
Lokalkolorit
I ch war gerne nachts in der Redaktion. Dann standen die leeren Schreibtischstühle vor schwarzen Computerbildschirmen, und das Summen der Klimaanlage verlieh dem Raum eine eigenartige, beinahe postapokalyptische Atmosphäre, die mir irgendwie gefiel. Tagsüber wurde man hier überrollt vom ununterbrochenen Geklapper der Tastaturen, vom Surren der Drucker, von Radiogedudel und hereinkommenden Nachrichten und dem endlosen Strom von Menschen, die im Rahmen von Redaktionsführungen zu jeder Tageszeit durch den Raum schlenderten oder hasteten, darunter Horden von desinteressierten Schulkindern und mäßig interessierten Würdenträgern.
Dieser Besucherstrom, der uns im Vorbeigehen ungeniert anstarrte, veranlasste Aled, meinen Verbündeten in Sachen Zynismus, dazu, ein Schild aufzustellen, das er aus dem Deckel einer Schachtel Druckerpapier gebastelt hatte und auf dem mit dickem schwarzem Filzstift geschrieben stand: »Bitte nicht füttern!« Das Schild lehnte mehrere Monate an seinem Computer, bis zufällig jemand aus der Personalabteilung vorbeikam und ein Vieraugengespräch mit dem Chefredakteur führte.
Nachts hingegen war von der schnatternden, überfüllten Zoo-Atmosphäre nichts mehr zu spüren, und dann
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