Saat der Lüge
bummelte ich mit Vorliebe durch die menschenleeren Gänge, lauschte dem Geräusch, das meine Schuhe auf dem verblichenen Linoleum machten, und spähte in leere Büros, in denen ich mir manchmal herrenlose Zeitschriften ausborgte oder Süßigkeiten aus einem Glas oder einer offenen Packung stibitzte. Oft schlenderte ich durch die oberste Etage und betrachtete die nahen und fernen Lichter der Stadt, die durch die spiegelnden Scheiben hereinleuchteten. Und lauschte.
An diesem Abend war ich unruhig und hatte das Gefühl, nicht mehr allein auf den Fluren umherzuwandern. Statt mich umzusehen, trotzte ich dem, was hinter mir sein mochte, indem ich mein langsames Schlendern beibehielt und es hartnäckig vermied, in die spiegelnden Glasscheiben der Brandschutztüren oder die Fenster der Sonntagsbeilagenredaktion zu blicken, die auf ihrer kleinen Insel aus Glas und Teppichboden über der brummenden Druckerei thronte.
Tagsüber war ich bei Jennys Beerdigung gewesen. Es hatte lange gedauert, bis die Leiche freigegeben worden war. Kommen Sie doch, hatte Mrs Morgan gesagt. Geh hin, hatte das Arschloch gesagt. Da kriegst du gute Insiderinfos und Eindrücke. Irgendwann fiel mein Widerstand in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
Nach den warmen Tagen im April hatte das Maiwetter inzwischen beschlossen, deutlich ins andere Extrem auszuschlagen, und ertappte uns in unseren leichten Frühlingsmänteln und Sommerjäckchen mit einem eiskalten Tag unter strengblauem Himmel und greller, wärmeloser Sonne. Die Beerdigung fand nicht in Wrexham statt. Offenbar lag Jennys Vater in einem kleinen Städtchen in den walisischen Tälern begraben, dem er nie wirklich entkommen war. Hier war er geboren worden, und hier hatte die Familie in den ersten dreizehn Jahren nach Jennys Geburt gelebt. Die Stadt war klein und deprimierend und wirkte vertrauter, als mir lieb war.
Ein Teil der Morgan-Sippe stammte von hier, ein anderer Teil aus dem Norden. Sie waren leicht auseinanderzuhalten, diese Menschen aus den verschiedenen Himmelsrichtungen. Die Verwandten aus dem Süden hatten wettergegerbte Gesichter, von Wind, Wetter und harter Arbeit zu einheitlichen Ebenbildern geblichen. Alle hatten die gleichen Wangen, die gleichen dichten Brauen unter stachligen, unbezähmbaren Haaren und billigen Haarschnitten, über Goldketten und ehemals guten Anzügen.
Die Verwandten aus dem Norden hingegen hatten klar geschnittene Gesichter und geschliffene Umgangsformen, trugen dezenten Lippenstift und distinguiertes graues Haar und zeichneten sich durch ihren herzlichen Händedruck mit manikürten Händen und durch die zähflüssigen Vokale ihres Akzents aus. Jenny sollte in das Land ihres Vaters zurückkehren und neben ihm in dem Grab bestattet werden, in dem er schon seit zehn Jahren lag und in das auch Mrs Morgan ihrem Mann und ihrem Kind eines Tages nachfolgen würde, in die Erlösung der wartenden Erde.
Die nüchterne, schlichte, weiß getünchte Kirche, die würdevoll auf einem steilen Hügel thronte und sich scharf vom dunkelblauen Himmel abhob, war von der Empore bis zu den schmalen Hintertüren nur spärlich besucht, und die leeren Plätze wirkten beinahe obszön. Die wenigen Trauergäste fröstelten und wünschten sich, einen dickeren Mantel und einen Schal angezogen zu haben. Weil die Autos in zweiter Reihe geparkt hatten, musste der Leichenwagen im Rückwärtsgang die Straße hinauf, an zugenagelten Obst- und Gemüseläden und einer ums Überleben kämpfenden Apotheke vorbei und über Schlaglöcher, so dass der Blumenkranz mit Jennys Namen hinter der Glasscheibe hin und her rutschte und schließlich zu Boden fiel.
Im Gänsemarsch kamen die Freunde der Familie dazu, die schon ihren Vater gekannt und die kleine Jenny früher auf dem Schoß gewiegt oder ihr Süßigkeiten zugesteckt hatten. Sie bliesen in die Hände und stampften mit den Füßen und schüttelten dem alten Pastor schweigend die Hand. Er war hager wie Schilfrohr, ein typischer Methodistenvertreter aus den walisischen Tälern, und in seinen wässrigen Augen glimmte tatsächlich noch ein Funke Kohlenfeuer.
Viele waren vermutlich nur gekommen, weil der Trauergottesdienst eine gewisse Abwechslung darstellte – in Abersychan war sonst nicht viel los. In Kapuzenjacken und mit Baseballkappen auf dem Kopf kauerten einige abgekämpft aussehende, aber streitlustig um sich blickende Mädchen auf der niedrigen Kirchenmauer, wo sie vor Kälte Grimassen schnitten und heimlich Zigaretten rauchten, nachdem sie
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