Saat der Lüge
Nachtschränkchen, ein paar eilig abgelegte Slips auf der Stuhllehne, die es nicht mehr in die Waschmaschine geschafft hatten.
Gleichzeitig war ich auf morbide Weise neugierig auf ihr Zimmer. Ich wollte den Schauplatz sehen, wo vielleicht etwas passiert war, von dem ich lieber nichts wissen wollte. Womöglich hatte Mike genau dort gestanden, wo ich jetzt stand, auf halbem Weg zwischen der Tür und dem abgewetzten weinroten Sofa, mit der Jacke in der Hand, während sie neben dem Fenster herumgetastet hatte, um die Ikea-Lampe anzuknipsen. Vielleicht hatte er den Blick über das behagliche Chaos schweifen lassen und das Nirvana - Poster mit dem untergetauchten Baby über dem alten Gasofen kommentiert und dabei ein paar Takte aus Smells Like Teen Spirit gepfiffen.
Ein Moment des Zögerns und dann was?
Jennys Zimmer glich auf deprimierende Weise der Vorstellung, die ich mir davon gemacht hatte. Schmutzig-weiße Einbauschränke, die schon bessere Zeiten gesehen hatten, ein staubiger cremefarbener Lampenschirm mit Fransen, braun-weiß geblümte Siebzigerjahre-Vorhänge und ein billiger grüner Teppichboden. In der Mitte des Zimmers stand ein runder hölzerner Küchentisch, der schon unzählige Male mit weißer Industriefarbe übermalt worden war und auf dem sich Bücher und Zeitschriften stapelten.
An der linken Wand gegenüber dem Fenster, durch das man die Straße und die spitz in den Himmel ragenden Stützpfeiler des Stadions sah, stand ein Bett mit einer ländlich wirkenden Patchwork-Überdecke und vier bunten Teddybären. Das Zimmer sah haargenau aus wie jedes Studentenzimmer, das ich je bewohnt hatte, inklusive der Kerzenstummel auf dem Fensterbrett, um die sich hart gewordene Wachsseen gebildet hatten, und der Flasche Wodka inmitten einer Ansammlung von Leergut.
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hätte ich plötzlich heulen können, aber wie hätte das ausgesehen? Das Gesicht zu verziehen und zu heulen und zu schluchzen, während ihre Mutter es schaffte, tränenlos und geduldig und aufrecht zu bleiben?
»Sie wollte das Zimmer renovieren«, sagte Mrs Morgan. »Wir hatten schon Farbe und alles gekauft, aber wir sind nie dazu gekommen. Sie war zwar erst seit ein paar Monaten hier, aber sie war fest entschlossen, es in der Großstadt zu schaffen. Sie hat so hart gearbeitet. Die Polizei hat alles durchsucht und ein paar Sachen mitgenommen. Ich weiß nicht genau, was, Briefe und so.«
Ihr Blick driftete weg und schweifte über die Dächer der Stadt, bevor er zurückkehrte. Ich wartete.
»Ich habe natürlich alles wieder aufgeräumt, es war ein ziemliches Chaos. Die Polizei hat die Bettlaken mitgenommen, für die Tests und so, Sie wissen schon. Und das, obwohl Jenny gar keinen Freund hatte, soviel ich weiß.«
Das alles war mir bereits bekannt.
»Damals, in dieser Nacht, war anscheinend trotzdem jemand hier. Harriet hat gehört, wie sie sich unterhalten haben. Aber sie hatte Wodka getrunken oder war wahrscheinlich auf Drogen.« Den letzten Satz klammerte sie ein, indem sie ihn mit übertrieben gedämpfter Stimme aussprach. »Deshalb kann sie sich nicht mehr genau erinnern. Sie glaubt, dass es ein Mann war. Weil sie angeblich eine tiefe Stimme gehört hat. Sie glaubt, dass einer der beiden, wahrscheinlich Jenny, nach einer Weile wieder gegangen ist. Aber vielleicht ist auch der Mann gegangen. Warum hätte Jenny um halb drei Uhr morgens noch mal nach draußen gehen sollen? Harriet sagt, dass sie manchmal zur Tankstelle gegangen ist, um sich Zigaretten zu holen. Zigaretten? Ich wusste nicht mal, dass sie raucht.« Sie sagte es ein wenig wehmütig, so als wäre ihr gerade aufgegangen, wie viele hundert Dinge sie nicht über ihre Tochter gewusst hatte, darunter vermutlich einige, die sie auch gar nicht hätte wissen wollen.
»Ein paar von ihren Sachen haben gefehlt. Schmuck, den sie mit hierher genommen hatte. Nichts Teures, aber sie hing wohl daran. Einen Raubüberfall schließt die Polizei aus. Vielleicht hat der Mann, der bei ihr war, den Schmuck mitgenommen, weil sich die Gelegenheit ergab.« Sie wirkte ratlos und verwirrt.
Das hier ist in Wirklichkeit gar nicht die Geschichte meiner Tochter , redete sie sich ein. Was hat ihr Leben mit alldem zu tun, ihr Tod? Ich sah es an ihrem abwesenden Blick, der sehnsüchtig nach der echten Welt Ausschau hielt und dann wieder zu dieser seltsam improvisierten Szene zurückschnappte, auf die sie nicht vorbereitet gewesen war.
Unterdessen verarbeitete ich das Gehörte aus
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