Saat der Lüge
die Streichhölzer in der hohlen Hand angezündet hatten, um die Flamme vor dem schneidenden Wind zu schützen, dem sich die braunen, starren, zu den hohen Hügeln geneigten Bäumchen tapfer widersetzten.
In der Kirche spielten sie Unchained Melody – doch, wirklich –, und es war schrecklich. Jeder, angefangen bei Jennys jungen Cousins und Cousinen, die sie wahrscheinlich nur ein- oder zweimal im Leben gesehen hatten, bis zu ihren zwei Tanten mit den herben Gesichtern, die beide Mäntel, schwarze Pumps und einen Ausdruck der Abscheu auf dem Gesicht trugen, kämpfte mit den Tränen.
Nur Mrs Morgan weinte nicht. Augenscheinlich nüchtern saß sie da, während der Pastor seine Psalmen verlas, darunter Der Herr ist mein Hirte und einige walisische Verse. Als sie an der Reihe war, einen Nachruf auf ihre Tochter vorzulesen, lehnte sie die Hilfe des Kirchendieners beim Besteigen der Kanzel ab, breitete ein einziges DIN-A4-Blatt vor sich auf dem Rednerpult aus und beschämte die ganze Gemeinde mit ihrer festen Stimme. Sie sprach von einer Jenny, deren großer Traum es stets gewesen sei, PR für die Stars zu machen oder Journalistin zu werden oder Filmkritikerin, um irgendwann nach Kalifornien zu ziehen und mit dreißig Millionärin zu sein (oder einen Millionär zu heiraten). Es fiel mir nicht schwer, das zu glauben. Genau davon hatte auch ich mit achtzehn geträumt.
Was ich allerdings nicht glauben konnte, war, dass diese Jenny in den Straßen meiner Stadt herumgelaufen war und geredet und geatmet hatte, ohne dass ich etwas davon mitbekommen hatte, dass sie mit Einkaufstüten beladen Hundekot ausgewichen und in Bars gegangen war und Wiedersehenstreffen alter Freunde gestört hatte. Weil ich es nicht glauben wollte .
Ich spürte, wie ich allmählich Angst vor ihr bekam, ungeachtet dessen, was ich damals in jener Nacht durch einen vergifteten Schleier aus Eifersucht und Verachtung von ihr gedacht hatte. Aber ich spürte auch Mitleid in mir hochsteigen. Ihre Art, sich zu kleiden, ihr kokettes Auftreten, das schäbige kleine Zimmer, die übergroßen Träume – all das kam mir eigenartig vertraut vor. Vielleicht waren diese Gemeinsamkeiten nur eine Interpretation meines schuldbewussten Verstands. Trotzdem schien offensichtlich, dass sie zumindest ein bisschen in Mike verliebt gewesen war. Selbst wenn er mir die Wahrheit gesagt hatte und nichts zwischen ihnen vorgefallen war: Sie hatte seinen Füllfederhalter in ihrem Zimmer gehabt, hatte dasselbe Gedicht gemocht. Reiner Zufall? Daran glaubte ich immer weniger.
Was hatte sie in ihm gesehen? Hatte sie mehr gewollt, als er ihr hatte geben können? Hatte sie ihn bis nach Cardiff verfolgt? Hatte sie gehofft, dass er ihre Liebe eines Tages erwidern würde, wenn sie nur lange genug durchhielt? Hatte sie aus der Ferne ihre Hoffnungen und Überzeugungen in ihn hineingegossen und sich vergewissert, dass sie jeden Winkel in ihm ausfüllten, sie gezwungen, sich anzupassen, wenn sie auf Widerstand trafen?
Und was hatte er in ihr gesehen? Er hatte mir versichert, dass nichts passiert war, dass sie nichts war als ein paar gemeinsame Drinks, eine kleine Abwechslung, die sich nicht hatte abwimmeln lassen. Fühlte er, der fünf Jahre Ältere, sich durch sie wieder jünger? Schließlich war er in ihrer Wohnung gewesen, am Ende der Nacht, zu einer Zeit, in der er eigentlich ganz woanders hätte sein müssen. Vielleicht war er nicht zum ersten Mal in dieser Wohnung gewesen. Vielleicht war das Ganze nicht wegen der Vorstellung von Mike mit Jenny so schrecklich, von nackter Haut und gehauchtem Atem und geflüsterten Versprechungen, sondern wegen der Vorstellung von Jenny mit Mike?
War dieser gemeinsame Moment im Dunkeln – falls es ihn je gegeben hatte – in ihren Augen ein Moment für die Ewigkeit gewesen? Hatte sie geglaubt, den Mann zu kennen, den sie mit voller Absicht in ihre Wohnung gelockt hatte, auch wenn sie es ihm gegenüber, vielleicht sogar sich selbst gegenüber, nicht zugegeben hatte? Hatte sie geglaubt, die Schöpferin dieses Moments zu sein und ihn zu beherrschen? Hatte sie, bevor sie kam, falls sie kam, vor sich selbst geleugnet, dass sie bereits auf ein nächstes Mal hoffte? Dachte sie, bevor sie starb, wie auch immer sie starb, es würde sie nichts kosten?
Paarweise
I ch glaube, das habe auch ich gedacht. Dass es mich nichts kosten würde. Nachdem Mike und Cora nach Cardiff zurückgekehrt waren, schienen sich für Mike und mich plötzlich unendlich viele Gelegenheiten
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