Saat der Lüge
hinein ins Herz der Kriminalgeschichte, die sich vor meinen Augen entfaltete und deren Ausgang noch völlig offen war.
Oft ließ ich mir Visionen von Jenny und Mike durch den Kopf gehen, wie sie vielleicht dort hineingegangen waren in der Nacht nach dem Charlie’s, stellte mir vor, wie sie im dunklen Hauseingang standen, wie er sie stützte und sie ihn einlud, mit nach oben zu kommen, wie dann das Licht im Fenster anging und sie die Jacken auszogen, und dann … und dann …
An einem dämmrigen Nachmittag im April – das Wetter war längst zum üblichen Trübsinn zurückgekehrt – lungerte ich wieder einmal am Flussufer herum, den Kragen gegen den Nieselregen aufgestellt, mit kalten Fingern und einer Atemwolke vor dem Mund, als plötzlich ein zerbeulter roter Opel Astra vorfuhr. Der Fahrer parkte so ungeschickt rückwärts-seitwärts ein, dass der Kotflügel ein ganzes Stück auf die schmale Straße hinausragte. Als die Fahrertür aufging, erkannte ich Mrs Morgan, Jennys Mutter.
Ich erkannte sie, weil ich sie auf einem von Jennys Polizeifotos gesehen hatte. Genau wie Jenny sah auch sie im echten Leben anders aus, älter und mit jener Patina der Trauer behaftet, die ständiges Weinen, unregelmäßiger Schlaf und ungerechtfertigte Schuldgefühle mit sich bringen.
Sie sah aus wie Anfang fünfzig, war groß und langgliedrig und trug das schwarze, bereits grau werdende Haar in einem strengen Kurzhaarschnitt. Ihr Wollmantel sah teuer aus, aber die Lederslipper unter der Stone-washed-Jeans waren abgetragen, und auf der linken Seite war die Naht aufgeplatzt. Sie mühte sich mit mehreren Aufbewahrungskisten aus Plastik ab, die offensichtlich leer und dazu gedacht waren, Jennys Habseligkeiten aufzunehmen.
Unschlüssig, ob ich mich nähern sollte, beobachtete ich, wie sie das Auto abschloss und die Kisten vor sich her balancierte. Aber dann fiel eine der Kisten auf den Kies, und ich sprang instinktiv über die Straße und bückte mich, um sie aufzuheben.
»Mrs Morgan?«, fragte ich. »Ich bin Liz Jones von The Mail. Wir haben telefoniert.«
Weniger als zwei Minuten später standen wir in Jennys Wohnung. Es war das Selbstverständlichste der Welt gewesen, Mrs Morgan anzubieten, ihr ein paar Kisten abzunehmen, damit sie mit den Schlüsseln hantieren und Haustür und Wohnungstür aufschließen konnte. Sie sagte, ihr habe der Nachruf gefallen, den ich auf ihre Tochter geschrieben hatte. Ich erwartete jeden Moment, dass sie »Danke, aber ich komme jetzt allein zurecht« sagte und mir höflich aber entschieden die Tür wies, aber das tat sie nicht. Dafür war sie zu nett.
Es war offensichtlich, dass noch jemand in der Wohnung wohnte. Auf dem Wohnzimmertisch stand auf einer Wochenendausgabe des Mirror ein Teller mit halb aufgegessenem Toast und einem Klecks, der wie Schwarze-Johannisbeer-Marmelade aussah. Mrs Morgan war meinem Blick gefolgt und sagte: »Oh, das ist Harriet. Ein nettes Mädchen, aber ein bisschen unordentlich.« Sie sammelte den Teller und einige Tee- und Kaffeebecher ein und brachte sie in die Küche.
Harriet war mir neu. Jenny hatte also eine Mitbewohnerin gehabt, ein unerwarteter Unsicherheitsfaktor. Weil die Polizei Harriet nicht erwähnt hatte, war ich davon ausgegangen, dass Jenny allein gelebt hatte. Eine Mitbewohnerin war normalerweise die ideale Person für eine Stellungnahme, vielleicht sogar eine große Hintergrundstory über den Verlust ihrer geliebten Freundin, eine Hommage, eine Laudatio. Aber in diesem speziellen Fall konnte Harriet auch eine Menge Ärger bedeuten.
»Wollen Sie Jennys Zimmer sehen?«, fragte Mrs Morgan unvermittelt.
Ich wusste nicht genau, ob ich es sehen wollte. Die Wohnung machte mir plötzlich Angst. Ich hatte kein Recht, hier zu sein, und ich wollte eigentlich nichts sehen, was das Schreckgespenst Jenny noch lebendiger machte, als es ohnehin schon war. Seit ihrem Tod war ich bemüht, die Domina-Jenny in hochhackigen Lederstiefeln, die unsere Wiedervereinigung gestört hatte, fein säuberlich von der »tragischen« und »lebhaften« Jenny zu trennen, der »geliebten Tochter«, die ich mit meiner plastischen und doch feinfühligen Zeitungsprosa erschaffen hatte.
Indem ich die Wohnung betrat, überschritt ich die Grenze von der Boulevardpressewirklichkeit zur Realität. Ich wusste, dass ich nun unwiderlegbare Beweise für ihre wahre Existenz zu Gesicht bekommen würde: auf der Frisierkommode aufgereihte Lippenstifte, schlecht fotografierte Familienportraits auf dem
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