Saat der Lüge
nötigte. Man kann die Öffentlichkeit auch auf dem Laufenden halten, ohne pittoresk verhärmt auf einer staubigen Straße herumzustehen und immer wieder die selben alten Knochen ins rechte Licht zu rücken, bis jeder verwirrt und ein wenig benommen ist und sich fühlt, als habe man ihn in ein Geheimnis eingeweiht. Die Leute wissen es nicht besser.
Insgeheim hätte ich mir durchaus vorstellen können, für eine Zeitschrift zu schreiben oder Reiseberichte zu verfassen oder – vielleicht das Allerbeste – zum Fernsehen zu gehen, um dort irgendeine vage und glamouröse Tätigkeit auszuüben, bei der man viel Freizeit hat. Es musste ja nicht unbedingt ein Bürojob von neun bis fünf sein, aber auch nichts, bei dem man sich großartig anstrengen musste.
Stattdessen schrieb ich für die Zeitung, wo mir die tägliche Redaktionsmassenware aus Sexualverbrechen und Überfällen, plötzlichen Todesfällen und Kindesmissbrauch, hirnverbrannten Umfragen und Sonderbeiträgen täglich sinnloser und unerträglicher vorkam.
Damit will ich nicht sagen, meine Arbeit hätte keine Vorteile gehabt. Zeitweise wurde ich angemessen für mein Elend entschädigt. In den ersten sechs Monaten verschaffte mir mein Presseausweis freien Eintritt zu drei Aufführungen der walisischen Nationaloper, zu French and Saunders in der St. David’s Hall und den Counting Crows und Catatonia in der Cardiff International Arena. Gute Sitzplätze und manchmal sogar Erdnüsse zu warmem Pausenwein im Presseraum – leicht verdientes Geld.
Mike war natürlich beeindruckt und begeistert, weil wir solche Veranstaltungen ohnehin gerne besuchten. Also nahm ich ihn hin und wieder mit. Cora hätte sich nur gelangweilt, wenn sie mitgekommen wäre.
Außerdem kam ich in den Genuss zweier Gratisübernachtungen in Fünfsternehotels, einer Wellnessbehandlung, eines langen Wochenendes in Brüssel und zweier Nächte in einer hinreißenden kleinen Kutscherherberge in Dartmoor.
Hinzu kamen die Interviews mit Möchtegernprominenten, die ich liebte, weil sie so skurril waren. Gerne erinnere ich mich daran, wie ich einmal mit dem aus dem Fernsehen bekannten Einrichtungsberater Laurence Llewelyn Bowen beim Kaffee über Vorhangtroddeln diskutierte oder den Schnäppchenkönig David Dickinson fragte, ob ihm die ständigen Vergleiche mit der Serienfigur Lovejoy etwas ausmachten, oder wie Uri Geller die Beherrschung verlor, weil ich mich weigerte, über seine neue Show in Swansea zu sprechen und ihn stattdessen über seinen Kumpel Michael Jackson ausfragte.
Man konnte also durchaus seinen Spaß haben bei dieser Art von Arbeit – und das nutzte ich aus.
Aber was die Sache mit Jenny betraf, gab ich sämtliche Zerstreuungen auf und entwickelte eine neue, methodische Herangehensweise an die Verbrechensberichterstattung. Ich sorgte dafür, dass ich zu jeder Tages- und Nachtzeit genau wusste, was vor sich ging.
Mein Arbeitseifer blieb in der Redaktion nicht unbemerkt. Ich rief täglich bei der Polizei an und fragte nach dem neuesten Stand bezüglich Jennys Autopsie, den Befragungen, den Fingerabdrücken. Ich streifte durch die Gegend und sprach mit Anwohnern, quetschte unter dem Deckmantel des Mitgefühls und der Anteilnahme systematisch Gerüchte aus ihnen heraus. Wenn es etwas Neues gegeben hätte, etwas, das eine Verbindung zwischen Mike und Jenny oder der Nacht im Charlie’s und Jenny hergestellt hätte, wäre ich die Erste gewesen, die es erfahren hätte. Das Arschloch war beeindruckt. Er sagte Dinge wie »Freut mich, dass du dich so in die Sache verbeißt« oder »Weiter so, dann gehört dir irgendwann der Laden«.
»Genau, dann setz ich dich auf die Straße, O- wain «, antwortete ich mit aufgesetztem Lächeln, und dann kicherte er und tätschelte mir den Arm wie ein amerikanischer Highschool-Footballtrainer seinem Quarterback. Ich wartete nur darauf, dass er mir das Haar zerzauste, damit ich ihm eine reinhauen konnte.
Seit Februar hatte ich Jennys Wohnung bereits mehrere Besuche abgestattet, zumindest von außen. Anfangs waren diese Besuche nur Teil meiner Strategie, als Erste an neue Informationen zu kommen, aber dann begann ich, immer öfter dorthin zu gehen, zu den seltsamsten Tages- und Nachtzeiten, wenn wenig zu tun war oder ich es in der Redaktion nicht mehr aushielt. Dann bummelte ich am schlammigen Flussufer entlang und starrte das hässliche Millennium Stadion an, bevor ich den Blick zu den leeren Fenstern hob, hinter denen sich Jennys Wohnung verbarg, direkt
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