Saat der Lüge
der Finsternis. Im schwachen Licht des Fensters konnte ich sein Gesicht erkennen, auf dem sich Widerstreben und Erleichterung einen erbitterten Kampf lieferten.
»Darf ich das denn nicht sagen? Wo du hier direkt vor mir stehst und so wunderschön bist und so unglaublich? Ich habe zwei Jahre darauf gewartet, dich anzufassen. Jedes Mal, wenn ich dich sehe, wünsche ich es mir mehr. Wie soll ich da widerstehen? Was soll ich tun?«, will er wissen.
Er erwartet eine Antwort. Ich soll ihm sagen, dass er stark sein muss. Weil er zu schwach gewesen ist, Stillschweigen zu bewahren.
Plötzlich bin ich nicht mehr in diesem Moment. Wir sind nicht mehr hier. Nicht zusammen. Das hier ist das Leben einer fremden Person, und ich bringe gerade noch seinen Namen hervor. Ich wünsche mir, er hätte mich gepackt und seine Lippen auf meine gedrückt, mir die Chance gegeben, mich zu wehren, einen Vorwand, sauer auf ihn zu sein. Aber wir sind nicht diese Leute, die sich hier gegenüberstehen. Es sind nicht meine Finger, die sich an seine Lippen pressen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ich bin es nicht, die ihn anfleht: Geh nach Hause! Geh nach Hause! Geh nach Hause, bevor sie sich wundert, wo du bleibst.
Die andere Stimme sagt: »Ich liebe sie wirklich. Das weißt du, oder?« Dann bricht sie ab.
Jemand sagt, dass wir nichts dagegen tun können, aber ich weiß nicht, wer es gesagt hat und was es bedeutet. Es ist nicht mein Gesicht, das er in den Händen hält, und es sind nicht seine Lippen, die sich auf meine pressen, verzweifelt und widerstrebend, aber ach: so sanft.
Als die Wärme zwischen uns zu fließen beginnt, als wir aufs Sofa gleiten, zwischen Zeitschriften und Zeitungen, weiß ich bereits, was passieren wird. Wortlos liegen wir in der sanften Dunkelheit, unser Atem wird schneller. Viele Straßen entfernt wartet sie auf ihn. Es fühlt sich näher an.
»Es tut mir so leid«, sagt er.
Es ist nicht direkt so, als würden Feuerwerkskörper explodieren. Ich frage mich, ob er merkt, dass es mein erstes Mal ist. Er ist sanft und nimmt sich Zeit, aber es ist zu schnell vorbei. Und gleichzeitig zu langsam. Danach reden wir noch eine Weile. Er erzählt mir von den Stunden, die er damit zugebracht hat, an uns zu denken, und ich liege in seine Arme geschmiegt da und sage ihm, dass ich ihn nicht liebe.
Er hört schweigend zu, ohne zu protestieren, nimmt es in sich auf und verdaut es wortlos. Ich kann seine Augen nicht sehen. Mein Kopf liegt auf seiner Brust, und ich habe nicht die Kraft, zu ihm hochzuschauen. Ich meine es so, wie ich es gesagt habe, aber nur, weil ich will, dass er jetzt geht. Er weiß, dass er gehen muss. Dass es Zeit zum Aufbruch ist. Es ist vorbei, bevor es richtig begonnen hat. Bitte, bitte geh, flehe ich.
Was in Gottes Namen wird er ihr erzählen? Er ist jetzt schon fast eine Stunde weg, ein halbes Dutzend Straßen entfernt.
»Ich sage ihr, dass ich mich verlaufen habe«, beschließt er. Wir wissen beide, dass sie es glauben wird. Er streckt die Hand aus und fährt mit den Fingern über meine Wange, hält mein Gesicht einen kurzen Moment in den Händen. Dann geht er, und ich sinke mit dem Rücken an der Haustür auf meine Fersen hinunter und lausche, wie sich seine Schritte entfernen. Ich fühle nichts von dem, was ich eigentlich fühlen müsste. Es ist vorbei.
Am nächsten Morgen war mir so schlecht, dass ich am liebsten gestorben wäre. Ruhelos schlich ich in den Partyklamotten der vergangenen Nacht durch die fremde Wohnung, räumte auf, blätterte die Seiten einer Zeitung um, die ich nicht lesen wollte, zappte durch die Mischung aus Religion, Sport und Jugendsendungen, die um diese Zeit im Fernsehen läuft. Ich konzentrierte mich mühsam darauf, den Brechreiz zu überwinden. Ich wollte nicht nach Hause. Ich hatte Angst, dass ich anders aussah. Weniger wie ein Mädchen, weniger wie eine Freundin.
Gegen halb zwei – Mike saß hoffentlich längst im Zug zurück nach Swansea – schleppte ich mich zum Ort des Verbrechens, des wirklichen Verbrechens, das erst noch stattfinden würde. Das Verbrechen bestand darin, dass ich sie anlügen würde. Das andere war kein Verbrechen, redete ich mir ein. Ich wiederholte es so oft, bis es mir wie die Wahrheit erschien. Ein kurzer Moment der Schwäche, die Sehnsucht nach Anerkennung, nach Trost, zwei Menschen am Ende der Nacht, die Angst hatten vor dem Alleinsein, Angst, den entscheidenden Moment zu verpassen. Kein Grund, deswegen die Welt zum Einsturz zu bringen.
Aber
Weitere Kostenlose Bücher