Saat der Lüge
was, wenn er es ihr erzählt hatte? Wenn er nach Hause gekommen war und in einem selbstsüchtigen Anfall von kläglicher, deplatzierter Loyalität damit herausgeplatzt war, um die eigene Schwäche kleinzureden und die Schuld auf mich abzuwälzen? Ich würde es natürlich abstreiten. Aber sah man mir die Schuld nicht vielleicht ohnehin an?
Als ich den Schlüssel ins Schloss schiebe und mich dabei wie eine Einbrecherin beim Eindringen in eine fremde Wohnung fühle, reißt Cora die Tür auf. Sie trägt noch ihr Nachthemd mit dem ausgeblichenen Miss-Piggy-Druck auf der Brust. Auch all die Jahre später habe ich dieses Bild noch messerscharf vor Augen.
Ihre Mascara vom Vorabend umrahmt blutunterlaufene Augen. Ich überlege kurz, ob sie geweint hat. Panik kriecht mir die Kehle hinauf, aber mein Gesicht bleibt ungerührt. Ich frage: »Alles okay?«
»Mir war so schlecht heute Morgen«, sagt sie kleinlaut, bevor wir uns durch die Trümmer der letzten Nacht in die Küche kämpfen und auf dem Weg dorthin Gläser einsammeln. »Oh Gott, was für eine Nacht! Die Jungs sind schon zurückgefahren, weil heute Fußballspiel ist. Lust auf ’nen Hotdog?«
Ich sitze am Küchentisch und spiele mit der Ketchupflasche, wie ich es schon Dutzende Male vorher getan habe. Die grellgelben Narzissen auf dem Tischtuch sind plötzlich äußerst faszinierend, ja geradezu hypnotisierend. Durchs gewellte Plastikvordach dringen gebündelte Sonnenstrahlen in die Küche und werfen ein Spotlight auf mich. Cora ist schweigsam, oder kommt mir das nur so vor? Habe ich Paranoia, sind es die Schuldgefühle? Wir verfluchen unseren übermäßigen Alkoholkonsum und unseren Kater, machen Bemerkungen über Tims Verbleib und fragen uns, wie es ihm wohl geht.
»Du errätst nie, was Mike gestern noch passiert ist«, sagt sie, während das Würstchenfett in der Pfanne faucht.
Ich halte schon das zweite Glas Orangensaft in der Hand, weil ich nicht weiß, was ich mit meinen Händen machen soll. Irgendetwas muss ich antworten.
»Was denn?«, frage ich, wie es von mir erwartet wird.
»Dieser Trottel, der sich mein Freund schimpft, hat sich auf dem Rückweg verlaufen. Sturzbetrunken wie er war, ist ihm erst am Ende der City Road aufgefallen, dass er in die falsche Richtung unterwegs war. Er hat sich einen Kebab gekauft und kam um halb vier endlich hier reingetorkelt. Ich wollte gerade die Polizei rufen.«
Sie tut fröhlich, aber ich merke genau, dass sie die Geschichte, die sie nachts, als sie Mike in die Arme schloss, noch geschluckt hat, jetzt nicht mehr ganz so plausibel findet. Laut ausgesprochen steht sie auf wackligem Fundament, eine hinkende, fadenscheinige Ausrede. Sie schaut mich flehend an, wünscht sich Bestätigung von mir. Wie immer.
»Wie hat er das denn hingekriegt?«, frage ich mit dem nachsichtigen Lächeln, das wir für Mikes Heldentaten reserviert haben. Wie damals im ersten Studienjahr, als er sich den Knöchel verstauchte, weil er für die Mädels aus der Wohnung unter uns unbedingt einen Rückwärtssalto machen musste, was vier Stunden Krankenhaus nach sich zog.
Cora antwortet, ihr sei auch nicht ganz klar, wie das passieren konnte. Ich weiß genau, dass sie mich eigentlich fragen will, um wie viel Uhr er bei Tim aufgebrochen ist. Ich sehe, wie ihr die Frage auf der Zunge brennt. Sie will wissen, ob wir auf dem Weg zu Tims Wohnung noch irgendwo Halt gemacht haben, bei einer Pommesbude zum Beispiel, ob ich ihm Tee gemacht habe, ob wir durch die Nacht gebummelt sind und viel geredet haben, ob wir überhaupt geredet haben. Aber sie kann mich das nicht fragen, weil sie weiß, dass sie mich damit in Zweifel ziehen würde. Darauf liefe es hinaus. Was sie damit andeuten wolle, würde ich fragen. Und welche Beweise hatte sie dafür? Wie konnte sie so etwas überhaupt von mir denken!
Sie weicht meinem Blick aus, und für einen kurzen Augenblick bilde ich mir ein, dass sie es weiß. Aber wenn sie es wüsste, könnte sie es unmöglich verbergen. Sie würde weinen und auf ihr Recht pochen, alles haarklein zu erfahren. Sie würde fragen, warum. Und ich würde keine Antwort darauf wissen.
Aber sie scheint sich lediglich darauf zu konzentrieren, sich die nackten Arme nicht zu verbrennen, während sie die Würstchen ins Brot stupst. Mit mütterlichem Lächeln richtet sie die Hotdogs auf einem Teller an und würzt sie. Ich habe mich geirrt: Cora sieht nur das vertraute, etwas verkaterte Gesicht ihrer Freundin. Mein Blick ist so direkt wie immer, mein
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