Saat der Lüge
In den Augen der Welt waren wir ein Grüppchen guter Freunde, sonst nichts.
Anfangs nahmen Mike, Stevie und ich uns tunlichst davor in Acht, Sie wissen schon wen zu erwähnen. Mit der Zeit vergaßen wir dann vollkommen, dass es etwas gab, vor dessen Erwähnung wir uns in Acht nehmen mussten.
Zu viert unternahmen wir Ausflüge an den Kiesstrand von Southerndown und aßen Eis, fest entschlossen, fröhlich und ausgeglichen zu sein, während Stevie uns mit Geschichten aus der Arbeit unterhielt und ich berichtete, welche Missgeschicke und Fehltritte sich die Schwachköpfe aus der Redaktion wieder geleistet hatten. Wir verputzten fertige Sandwiches, schmolzen unter einer dicken Schicht Sonnencreme im Gras dahin und zogen uns in den gotischen Schatten der alten Parkmauern und der Herrenhausruine zurück, wenn die Sonne am höchsten stand.
Abends suchten wir die schattigen, feuchtfröhlichen Terrassen der neu eröffneten Bars auf der Mill Lane auf, die exotische Alkopops ausschenkten und weit genug vom Charlie’s entfernt lagen. Hier konnten wir beim Trinken Leute beobachten und uns den schwabbeligen Menschenmassen mit ihren bauchfreien Polyester-Tops, prallen Bäuchen, toupierten Frisuren und Stiernacken überlegen fühlen.
Die Welt war in Ordnung, und sie bestand nur aus uns vieren.
Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich, dass Cora mich manchmal wehmütig aus den Augenwinkeln betrachtete, wenn sie glaubte, ich würde vor mich hin dösen oder wäre in den Bau einer Sandburg oder in ein Buch vertieft oder würde gerade selbstvergessen an meinem Cocktail nippen. Irgendetwas wuchs und gedieh in ihrem Schweigen, in ihrem schwächer werdenden Hang, zu glucken und sich aufzuregen und uns liebevoll herumzukommandieren. Diese Verhaltensweisen, die immer ihr Markenzeichen gewesen waren, der Kern ihres Wesens, schwanden dahin wie das Tageslicht des zu Ende gehenden Augusts.
Wir freuten uns darüber, dass sie vermeintlich immer entspannter wurde, und nötigten ihr Wein und Martini auf, die sie immer seltener zurückwies. Wir werteten es als positives Zeichen, als Triumph unseres Optimismus, der sich immer mehr auf sie übertrug und uns Ruhe und Frieden verschaffte. Wir waren froh darüber. So konnten wir vergessen.
Aber Cora hielt unbeirrbar an Jenny fest. In der Hitze des Sommers brütete sie unbemerkt ihren Frust aus, bis er bereit war, die Schale zu durchbrechen.
Als Anfang September das neue Schuljahr begann, behielt Cora, ohne dass es uns zunächst auffiel, ihre sommerlichen Trinkgewohnheiten bei. Das war das zweite Zeichen, das ich vor lauter Freude über den nahenden Winter ignorierte. Für Cora war es normalerweise schon ein großes Besäufnis, wenn sie mehr als drei Martinis und ein Glas Wein trank, daher hätte es mich alarmieren müssen, dass sie – schneller, als ich bestellen oder gar mit ihr Schritt halten konnte – ein Glas Wodka nach dem anderen hinunterschüttete.
Im Oktober sagte Cora nur noch selten Nein zu einem Gläschen Wein in der Mittagspause und einem weiteren nach der Arbeit oder einem Fläschchen zum Mittagessen am Samstag. Heute weiß ich, dass sie damit ihre eigene leise Paranoia schürte. Zweimal musste ich Mike helfen, sie in ein Taxi zu hieven, nachdem sie breitbeinig vor sich hin getorkelt war, als müsste sie auf einem schlingernden Schiff die Balance halten. Dabei war es nicht einmal sehr spät oder ein besonderer Anlass.
In Kürze war die Nacht, in der Jenny uns die Wiedersehensparty verdorben hatte, ein Jahr her. Die Nacht ihres Verschwindens. Stevies Geburtstag.
Ich hatte den Auftrag, einen Artikel nach dem Muster Ein Jahr danach – Mord/Tod/Rätsel immer noch ungelöst zu schreiben. Die Polizei erneuerte ihren Aufruf an die Bevölkerung in der Hoffnung, damit dem Gedächtnis möglicher Zeugen auf die Sprünge zu helfen. Mir kam dieser Aufruf so lange nach dem Vorfall ein wenig unsinnig vor. Es sei denn, die Polizei hatte neue Beweise, gab dies jedoch zunächst nicht zu. Zu meiner immensen Erleichterung schien das Tagebuch aus Jennys Zimmer zu keinen Ergebnissen geführt zu haben. Der mysteriöse »Er« aus der Arbeit, den sie in jener Nacht hatte treffen wollen, war nie aufgetaucht.
Als mein Artikel – inklusive Foto und weiterer netter Worte von Mrs Morgan – auf Seite zwei erschien, trat Cora endgültig den freien Fall an.
Ich wusste, dass sie und Mike seit Ende des Sommers viel gestritten hatten. Ihre Launen wurden unvorhersehbar. Das Thema Jenny hatte sich in alle ihre
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