Saat der Lüge
durchrüttelnden Redaktionstage, an denen ich wegen des vielen Kaffees so überdreht war, dass ich mich zwingen musste, gleichmäßig ein- und auszuatmen und die dunklen Lichtblitze am Rand meines Gesichtsfelds auszublenden. Manchmal, wenn es besonders schlimm war, kam es mir so vor, als könnte mein Schädel jeden Moment aufplatzen wie eine reife Wassermelone und sich in einem glitzernden Bogen aus Knochensplittern und Melonenstückchen in die Umgebung verteilen, und als ließe sich der Schmerz nur lindern, indem ich mich zwischen die geschäftigen Passanten auf der Queen Street kniete, meine Stirn gegen den kühlen, regenglatten Boden presste und versuchte, mich in die Erde hineinzuatmen.
Ob sich wohl jemand zu der zusammengerollten, zitternden, beschämenden Insel des Versagens inmitten des größer werdenden Meers aus Füßen hinunterbeugen und fragen würde, ob es mir gut gehe und er mir helfen könne? Dann könnte ich antworten: »Oh ja, bitte helfen Sie mir! Ich weiß nicht warum, aber ich möchte nur noch nach Hause, weil alles zu laut und zu grell und zu gleichförmig ist. Jeden Tag dasselbe, jeden verdammten Tag!«
Ohne dass ich es gemerkt hatte, übertraf die Zahl der Tage, an denen ich so war, inzwischen bei weitem die Zahl der normalen Tage. An diesem Vormittag hatte ich bereits mehr als zwanzig erfolglose Anrufe getätigt, um von publicitygeilen »Experten« belang- und inhaltlose Stellungnahmen zu den heutigen Nachrichtenthemen zu bekommen. Enthalten Mädchenzeitschriften zu freizügige Darstellungen? Sorgen prominente Väter dafür, dass Vatersein plötzlich voll im Trend ist? Feiern Würstchen mit Kartoffelbrei ihr soundsovieltes Comeback? Fragezeichen nach dem Fragezeichen? Der Abgabetermin rückte näher, tick tack, tick tack, noch tausend Wörter und immer noch kein Experte.
Zu allem Überfluss stand auch noch das Arschloch neben meinem Schreibtisch und versuchte plump und ungeniert mit mir zu flirten, während sämtliche Kollegen teilnahmsvoll auf ihre Tastatur hinuntergrinsten. Ich blieb hart: »Nein, ich kann meine Schicht nicht tauschen und Freitagnacht arbeiten, nur weil du mal wieder Mist gebaut hast bei der Einteilung und Claire behauptet, dass sie einen Nervenzusammenbruch erleiden wird, wenn sie das fünfte Wochenende in Folge arbeitet. Ist das etwa mein Problem?«
Halb zwei, und immer noch kein Experte.
Um zwei beschloss ich normalerweise, etwas essen zu gehen und mich anschließend bei einem kleinen Bummel durch die Einkaufsstraße auf andere Gedanken zu bringen. Dabei bestand jedoch immer die Gefahr, dass das rege Treiben und die vor Kleidern, Elektrogeräten, dampfend heißem Kaffee, Brot, Kuchen, Büchern, Computerspielen und sündhaft teuren Flachbildfernsehern überquellenden Schaufenster einen noch heftigeren Kurzschluss in meinem Gehirn auslösten und mich wieder der unwiderstehliche Drang überkam, mich auf die Straße zu legen. Was ich natürlich nie tat. Das wäre dann doch zu verrückt gewesen – ungeniert durchgeknallt, statt bloß auf friedliche, normale, durchschnittliche Weise verrückt.
Stattdessen hastete ich meist so schnell wie möglich vorwärts, zielstrebigen Schrittes, aber ohne festes Ziel, um mich irgendwann völlig verwirrt bei Boots oder Marks & Spencer wiederzufinden, wo ich ein Sandwich auszuwählen versuchte und mich fragte, ob die anderen Leute wohl auch den Wunsch verspürten, sich einen Abfallbehälter in Reichweite zu schnappen und ihn durchs nächste Schaufenster zu schleudern, einfach nur, um den Teufelskreis zu durchbrechen, um endlich etwas zu TUN ! Atmen. Ein. Aus.
An diesem Tag jedoch rief mich Mike um zwanzig vor zwei an und fragte, ob ich mit ihm zu Mittag essen wolle, sein »Business Lunch« mit einem Kunden sei früher als gedacht zu Ende gewesen.
»Business Lunch?«, flötete ich mit meinem hochnäsigsten Akzent und musste augenblicklich lächeln. »Du heillos affektierter Yuppie! Bist wohl in den Achtzigern hängen geblieben, was? Ich wette, du trägst auch noch Hosenträger.«
»Die kannst du später schnalzen lassen, wenn du willst«, sagte er betont lasziv. »Jetzt komm schon. Die können mal eine Stunde auf dich verzichten. Im Gegensatz zu mir!«
Plötzlich waren meine Schritte beschwingter, während ich zu unserem Treffpunkt eilte und mir unterwegs die Haare glatt strich und in die Wangen kniff. Ich sah ihn schon von weitem grinsend aus der Menge herausragen. Er hielt ein Buch in der Hand, das er mir ausleihen wollte, sein
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