Saat des Feuers
seltsam beschwingt. Wie ein mittelalterlicher Mönch, der seine Pflichten erfüllt hat und sich nun im vollen Bewusstsein, dass er sich diese einfache Freude verdient hat, bei einem Krug Wein entspannen kann.« Während er sprach, drehte er einen Korkenzieher, den er an der Rezeption besorgt hatte, in den Flaschenhals.
Mit einem feuchten Plopp! glitt der Korken aus der Flasche.
Er goss ein und schlenderte mit einem Glas in jeder Hand zu ihr hinüber. »Ich entschuldige mich dafür, dass der Wein nicht dekantiert ist, aber da wir primitiv hausen, muss es auch so gehen.« Dann, mit einem Lächeln: »Vorsicht. Dieses Zeug ist gefährlich süffig.«
Edie nahm das ihr angebotene Glas und erwiderte sein Lächeln, bevor sie einen Schluck von der rubinroten Flüssigkeit nahm. »Mmh. Das Zeug ist wirklich süffig.«
Cædmon lachte. Das Lachen klang tief, voll und einladend, und wie der Portwein brachte es sie zum Lächeln.
»Und nun zu der vor uns liegenden Aufgabe!« Er deutete auf das
Erkerfenster und den kleinen, runden Tisch. »Hoffentlich schaffen wir es, das letzte Quartett zu knacken.«
Nicht sicher, ob sie dabei eine große Hilfe sein würde, da ihr Verstand durch den Jetlag immer noch in Zeitlupe arbeitete, setzte Edie sich in einen der beiden Ohrensessel, die in den Erker gezwängt waren. Mit dem komischen Gefühl, dass ihr der Portwein zu Kopf stieg, starrte sie auf die letzten Zeilen des übersetzten Textes.
Die vertrauenswerte Gans weinte bitterlich,
denn nun alle waren tot.
Ich weiß nicht, wie der Welt gedient ist mit solcher Not.
Doch wenn ein Mann mit tiefgläubigem Herzen
den gesegneten Märtyrer sucht,
Dort in dem Schleier zwischen zwei Welten
ist die versteckte Wahrheit zu finden.
Mit dem Zeigefinger unterstrich sie die erste Zeile. »Zweifellos ein nur schwach verschleierter Hinweis auf die Weihnachtsgans.« Scherzhaft zwinkerte sie ihm zu.
Ganz auf die Aufgabe konzentriert, kreiste Cædmon »Gans« mit dem Bleistift ein. »Die Worte ›Gans‹ und ›Schwan‹ waren in der Sprache des Mittelalters austauschbar. Die Gans steht symbolisch für Wachsamkeit. In Hinblick auf alles, was wir bereits wissen, ergibt das durchaus Sinn.«
»Ach ja? Tut mir leid, aber ich kann dir nicht folgen.« »Vergiss nicht, dass Galen die Rolle des Wächters der Bundeslade übernahm. Und Wachsamkeit ist die wichtigste Eigenschaft eines Wächters.«
»Und vergessen wir auch nicht, dass die Quartette dazu noch Galens Schwanengesang waren.«
Cædmon warf einen Blick auf ihr Glas, als wollte er fragen: Wie viel hattest du eigentlich schon von dem Zeug?
Edie schob das Glas beiseite. »Sir Kenneth erwähnte, dass jeder
in Godmersham bis auf Galens Frau der Pest zum Opfer fiel. Also schätze ich, dass das die wesentliche Aussage von Zeile zwei ist.«
»Das sieht mir wie eine korrekte Annahme aus. Was die dritte Zeile betrifft …«, Cædmon hob sein Glas und nahm einen kleinen Schluck, »… das ist eine typische Ermahnung, die man in jeder mittelalterlichen Erzählung findet.«
»Nur ein Ritter mit reinem Herzen kann den Heiligen Gral f inden, richtig?«
»Mmmm, so ungefähr.«
Gedankenverloren trommelte er mit den Fingern langsam auf den Tisch.
Ein paar Augenblicke später wurde das Trommeln zu einem schnellen tap-tap-tap-tap .
»Ich nehme an, das ist ein gutes Zeichen.«
»So gut, dass mir die Eier kribbeln«, antwortete er anzüglich und schlug mit der Handfläche auf den Tisch. »Wenn ich mich nicht völlig irre, dann ist der verfluchte ›gesegnete Märtyrer‹ kein anderer als der heilige Laurentius – St. Lawrence the Martyr.«
Angestrengt durchforstete Edie ihre Datenbanken, da der Name ihr irgendwie bekannt vorkam. Es dauerte einen Augenblick, bis sie an die richtige Erinnerungsdatei kam, diejenige darüber, dass Galen eine Menge »heiliger Reliquien« der Ortskirche gespendet hatte. »AchdulieberGott! Galen versteckte die Bundeslade in der …«
»Kirche St. Lawrence the Martyr!«, riefen sie beide gleichzeitig aus und grinsten sich breit an.
»Den Berichten im Alten Testament zufolge«, fuhr Cædmon aufgeregt fort, wobei er die letzte Zeile der Strophe mit dem Finger unterstrich, »hängte man, als die Bundeslade ins Allerheiligste von Salomons Tempel gebracht wurde, einen Schleier vor den Eingang, um diesen heiligen Ort abzuschirmen. Das prägte den Ausdruck ›hinter dem Schleier‹, da niemand, nicht einmal die Priester, diesen heiligen Ort betreten durften.«
»Was bedeutet, dass die letzte
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