Sacramentum
»Wir sind alle müde und erschrecken uns schon vor Schatten. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass unsere Brüder bis zur Wahl Führung von uns erwarten. Wir müssen das Schiff auf Kurs halten und beruhigen, statt aufzuwiegeln.«
Athanasius hatte Vater Thomas schon immer gemocht. Er hatte viele Abende über alles Mögliche mit ihm diskutiert, von Archäologie bis Philosophie und über alles dazwischen. Er betrachtete ihn als intelligent, rational und ruhig.
»Die Bruderschaft ließe sich am einfachsten beruhigen, wenn wir die Sancti wieder einsetzen würden.« Alle drehten sich zu Bruder Axel um. »Das wäre ein wichtiges Signal und würde sofort Wirkung zeigen.«
»Aber wer soll sie wählen?«, fragte Thomas.
»Solange wir keinen Abt haben, um Kandidaten vorzuschlagen, oder einen Prälaten, um sie in den Stand der Sancti zu erheben, können wir uns nicht darum kümmern«, erklärte Athanasius. »Deshalb muss diese Frage bis nach der Wahl warten.«
Axel blickte zwischen Athanasius und Vater Thomas hin und her, als folge er einem unsichtbaren Band zwischen ihnen. Dann drehte er sich zum Bruder Gärtner um. »Ich werde ein paar meiner Männer am Garteneingang postieren für den Fall, dass ein neugieriger Bruder einen Mitternachtsspaziergang machen will. Wenn du sonst noch etwas von mir brauchst, lass es mich wissen.« Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte davon.
Athanasius schaute ihm hinterher. In Folge der Explosion entwickelten sich offenbar zwei Fraktionen im Berg: die Rationalen und die Ängstlichen. Und Angst ließ sich leicht ausnutzen. Mit Angst hatten die Sancti Jahrtausende über den Berg geherrscht. Obwohl Athanasius aus Mitgefühl und nicht aus politischem Ehrgeiz entschieden hatte, sie aus dem Berg zu bringen, so war er insgeheim doch froh, dass sie nicht mehr da waren, und er hoffte sogar, dass sie nie mehr zurückkehren würden. Die Zitadelle hatte sich seit dem Weggang der Sancti verändert. Alles fühlte sich irgendwie freier an; selbst die Luft schien frischer zu sein. Doch nun, da er Axel dabei beobachtete, wie er wieder im Berg verschwand, wurde Athanasius klar, dass die Sancti rascher wieder zurückkehren könnten, als er gedacht hatte … und dass er gerade einem Rivalen in die Augen geschaut hatte.
11
Zimmer 406, Davlat-Hastenesi-Krankenhaus
Liv beobachtete, wie sich die Tür nach innen öffnete und den Blick auf den abgedunkelten Gang und den Schatten freigab, der dort stand. Deutlich war der weiße Kragen im Zwielicht zu sehen. Liv schaute in das Gesicht des Priesters. Es war eine einstudierte Maske aus feierlichem Ernst und Mitgefühl, als würde der Mann ein trauerndes Gemeindemitglied besuchen oder sich eine harmlose Beichte nach dem Sonntagsgottesdienst anhören. Der Priester wirkte vollkommen normal, und doch hatte Liv Angst vor ihm … Aber es keimte auch Wut in ihr auf. Sie ballte die Fäuste auf dem Bett und krallte sich in das gestärkte Laken. Liv war so sehr auf den Priester konzentriert, dass sie die zweite Gestalt, die den Raum betrat, erst bemerkte, als die Tür sich wieder schloss.
Der zweite Mann war deutlich kräftiger und größer als der Priester, was jedoch nicht allzu sehr auffiel, da er leicht vornübergebeugt ging. Sein rechter Arm lag in einer Schlinge vor der Brust, und in der linken hielt er zwei Plastiktüten, wie Spurensicherer sie für Beweismittel verwendeten. Intelligente Augen schauten über den Rand einer Brille mit Halbgläsern, die schief auf einer beeindruckenden Nase hing. Liv lächelte. Der warmherzige Blick ließ ihre Wut dahinschmelzen. Es war ebenjener Kriminalbeamte, der sie als Erster angerufen und über den Tod ihres Bruders informiert hatte.
»Arkadian!« Sie hatte ihn zum letzten Mal am Flughafen gesehen, inmitten des Blutbades, als die Agenten der Zitadelle versucht hatten, sie allesamt zum Schweigen zu bringen. Liv erinnerte sich noch deutlich daran, wie Kugeln ihn getroffen und zu Boden geworfen hatten. »Ich dachte, Sie wären …«
»Tot? Nicht ganz. Ich habe mich zwar offensichtlich schon besser gefühlt, aber unter den Umständen will ich mich nicht beschweren.« Er setzte sich auf die Bettkante, und sein Gewicht drückte die Matratze runter. Seine Gegenwart beruhigte Liv fast genauso, wie der Priester sie beunruhigte. »Wie geht es Ihnen?«, fragte Arkadian.
Am liebsten hätte Liv ihm alles gesagt, was ihr durch den Kopf ging, doch stattdessen huschte ihr Blick zu dem Priester in der Ecke, und sie hielt sich zurück.
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