Sacramentum
sich langsam, aber stetig durch einen riesigen Aktenstapel kämpfte. Liv zeigte ihm das Plastikband an ihrem Handgelenk, auf dem ihr Name und ihre Patientennummer standen, und der Mann klemmte sich einen Stapel Akten unter den Arm und schlurfte in die Finsternis der Regale hinter ihm. Liv schaute zur Tür und lauschte auf die Geräusche in der Lobby. Sie war bereit, sofort loszulaufen, wenn sie schnelle, schwere Schritte hörte. Bis hierhin war ihre Flucht ungewöhnlich leicht gewesen. Sie hatte gedacht, entweder der Cop oder der Priester hätten mehr unternommen, um sie aufzuhalten, doch mit ihrem überraschenden Aufbruch hatte sie beide offensichtlich auf dem falschen Fuß erwischt. Aber ohne Zweifel hatten beide sofort ihre Vorgesetzten angerufen, und vielleicht waren sie jetzt schon auf dem Weg, sie doch noch festzuhalten. Liv musste vorsichtig sein.
Mit einem Karton kehrte der Krankenhausangestellte aus dem düsteren Archiv wieder zurück. Liv bestätigte mit ihrer Unterschrift den Erhalt, öffnete den Karton und zuckte beim Anblick ihrer eigenen blutverschmierten Kleider in einem Plastikbeutel unwillkürlich zurück.
»Aller Müll in die Ecke da.« Der junge Mann deutete auf einen großen, portablen Mülleimer mit einem gelben Plastiksack darin. Liv trug ihren Karton hinüber und öffnete den Mülleimer. Darin lagen bereits fünf, sechs andere Beutel mit ebenso blutverschmierter Kleidung, und Liv fragte sich, warum das Krankenhaus die nicht von sich aus entsorgte. Dann sah sie den Disclaimer auf der Unterseite des Deckels und verstand. Das war ein Versicherungsproblem. Es hieß dort, wenn man etwas von Wert wegwarf, war man offiziell selber schuld. Liv warf ihren Beutel zu den anderen und schloss den Mülleimer wieder.
Ansonsten befand sich nur noch ein zerknüllter weißer Briefumschlag in dem Karton und darin wiederum ein paar gefaltete Blatt Papier und ein paar tausend türkische Lira. Liv hatte keine Ahnung, ob sie nun reich war oder ob sie sich damit nur einen Becher Kaffee kaufen konnte. Aber wie auch immer, es war besser als nichts. Liv stopfte den Umschlag in ihre Reisetasche und ließ den Karton auf dem Tresen. »Danke«, sagte sie, warf sich die Tasche erneut über die Schulter und bereitete sich auf die Außenwelt vor. Der junge Mann schwieg und widmete sich wieder seinen schier unendlichen Bergen Papier.
Liv öffnete die Tür und ließ ihren Blick über die Menschen in der Lobby schweifen. Wegen des Nachrichtenteams davor kam der Haupteingang nicht in Frage. Im Augenblick durfte Liv keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es musste noch einen anderen Ausgang geben. Ihr Blick fiel auf zwei junge Männer in Krankenpflegeruniform, die sich von ihr wegbewegten. Etwas an ihrer Körpersprache erregte Livs Aufmerksamkeit. Sie waren entspannt und ohne Eile. Einer von ihnen griff in seine Brusttasche, und Liv entdeckte einen verräterischen, rechteckigen Abdruck dort. Als ehemalige Raucherin wusste sie sofort, was das war. Die beiden waren auf dem Weg zu einer Zigarettenpause, und wenn es kein Raucherzimmer im Krankenhaus gab – und das gab es mit Sicherheit nicht –, dann gingen die beiden hinaus.
Liv folgte ihnen, als sie durch eine Doppeltür und in einen schäbigen Flur gingen. Sie passte sich ihren Schritten an, damit sie sie nicht hören konnten; aber die beiden waren ohnehin viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie die kleine blonde Frau bemerkt hätten, die sich an ihre Fersen geheftet hatte. Sie erreichten einen Notausgang am Ende des Gangs und lehnten sich gegen die Tür, um sie zu öffnen, die Zigaretten bereits im Mund. Liv beschleunigte ihren Schritt und schlüpfte hinter den beiden hinaus. »Hi!«, sagte sie und schaute eine Gasse hinunter, hinter der die Hauptstraße zu sehen war.
»Der Haupteingang ist da drüben«, knurrte einer der Männer und deutete zurück.
»Aber ich kann doch auch hier raus, oder?« Liv marschierte bereits zur Straße. Sie wartete nicht auf die Antwort.
Die Gasse öffnete sich auf eine breite Straße mit zwei Fahrbahnen, die jedoch nur in eine Richtung führten. Sie ging gegen den Verkehr, kniff die Augen zum Schutz vor dem Licht der untergehenden Sonne zusammen und hielt nach einem Taxi Ausschau. Wenigstens regnete es nicht mehr. Bei Regen bekam man nur schwer ein Taxi. Liv sah ein leeres, winkte es heran und ließ sich dankbar auf den Rücksitz fallen.
»Nereye?« , fragte der Fahrer.
»Zum Flughafen«, antwortete Liv und schnallte
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