Sacramentum
sich an. »Airport.«
»Zu welchem denn?« Der Fahrer wechselte mit einer Leichtigkeit ins Englische, wie es typisch für Touristenorte war.
»Zum geschäftigsten«, sagte Liv und ließ sich tief in ihren Sitz sinken. »Zu dem, von dem die meisten Flüge gehen.«
23
Die Büros von Ortus, Gartenbezirk, Trahpah
Ajda Demir schaute mit zusammengekniffenen Augen aus den Fenstern im vierten Stock auf den hellen Abendhorizont und schützte ihre Augen mit den Händen vor den gleißenden Reflexionen der nassen Straße. Die Bewegung spiegelte sich im Glas und lenkte Ajdas Aufmerksamkeit auf das durchscheinende Bild ihrer selbst, das wie ein Geist vor ihr stand. Die Geschichte der vergangenen Woche stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, Sorgenfalten auf der Stirn, und graue Strähnen waren ihrem sonst so makellosen Haarknoten entkommen. Ajda zupfte ihre Haare wieder zurecht, als könne dieser kleine Akt alles wiedergutmachen.
Ajda wandte sich von ihrem Geisterbild ab und ging im Kopf noch einmal das Chaos durch, das in ihre wohlgeordnete Welt Einzug gehalten hatte. Der Raum, in dem sie sich befand, ähnelte einem kleinen Klassenzimmer. Leuchtstoffröhren sorgten für Licht, und an den in Reihen angeordneten Schreibtischen saßen für gewöhnlich Spendensammler und freiwillige Arbeiter, die eines ihrer größeren Wohlfahrtsprojekte im Zentralsudan abwickelten. In Folge der Explosion in der Zitadelle war jedoch all das zum Stillstand gekommen. Ortus’ Konten waren weltweit eingefroren worden bis geklärt war, warum die Präsidentin der Organisation sich eine Lkw-Ladung Dünger geschnappt hatte, die von einem respektablen Unternehmen gespendet worden war, um damit eines der ältesten und heiligsten Klöster in die Luft zu jagen. Die ganze letzte Woche über hatten Ermittler hier campiert, die Konten und Berichte der Organisation überprüft und nach Beweisen dafür gesucht, dass Ortus nur ein Deckmantel für eine Gruppe kirchenhassender Terroristen war. Natürlich hatten sie nichts gefunden, aber das war egal. Der PR-Schaden war auch so schon groß genug. Ajda hatte nicht nur Telefonanfragen und aufdringliche Reporter abwehren müssen, sie hatte es auch mit einer stetig wachsenden Zahl von Unternehmen und Einzelspendern zu tun, die ihre Verbindung zur Organisation kappten. Der Kartonberg vor ihr voller Dokumente, die alle sortiert und bearbeitet werden mussten, war die physische Manifestation der riesigen Schwierigkeiten, in denen Ortus nun steckte.
Doch es war nicht die zusätzliche Arbeit, die Ajda so schwer auf der Seele lag. Es waren die unsichtbaren Folgen, die dieses Chaos verursacht hatte. Durch die Lücken zwischen den Kisten hindurch konnte sie die Bilder und Karten all der Projekte an der Wand sehen, die durch die Untersuchung zum Stillstand gekommen waren: ein Wasserreinigungs- und Filtersystem im Sudan, der Neubau einer Schule in Sierra Leone und frisch gepflügte Felder in Somalia, auf denen bis dato nur Landminen gewachsen waren. Die Menschen in diesen Ländern waren die wahren Opfer der Ereignisse. Sie würden es nicht verstehen, warum ihre zerstörten Leben nicht weiter aufgebaut wurden.
Ajda spürte die Schwüle in der Luft, und sie hoffte, dass noch ein Gewitter kommen würde, um die Luft zu reinigen. Doch statt Donner hörte sie etwas, das sie die Augen aufreißen ließ und ihr einen Schauder über den Rücken jagte. Es war das Knarren von Schritten auf dem Parkett. Es war noch jemand im Gebäude außer ihr.
Ajda lauschte auf weitere Geräusche. Sie hoffte auf den Ruf einer vertrauten Stimme oder das Raunen eines Gesprächs, doch da war nichts. Für heute hatten alle bereits Feierabend gemacht. Ajda hatte den Eingang selbst abgeschlossen, nachdem der Letzte gegangen war.
Da war es wieder: das Knarren auf den Parkettdielen, gefolgt von einem leisen Klick.
Es kam von irgendwo über ihr, wo niemand hätte sein sollen. Die ersten vier Stockwerke waren Büros. Der fünfte beherbergte die Privatwohnung von Kathryn Mann, deren Familie einst das ganze Gebäude gehört hatte. Dieser Tage leitete sie Ortus und wohnte ›über der Firma‹, wie sie sich auszudrücken pflegte. Aber sie war nicht in ihrer Wohnung; sie war im Krankenhaus.
Wieder ein Geräusch.
Leiser diesmal, als würde eine Schublade geöffnet.
Ajda schlich zur Tür und ins Treppenhaus hinaus. Dort schaute sie zum Treppenabsatz im fünften Stock hinauf.
Die schwachen Geräusche waren noch immer von oben zu
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