Sacramentum
Fenster in der Mitte handelte. Nun da er seine Mutter gefunden hatte, entspannte er sich wieder ein wenig.
Dann spürte er ein Vibrieren.
Zunächst hielt er es für Donner, doch als auch der Boden zu zittern begann, begleitet von einem tiefen Grollen, da wusste er, was das war.
Gabriel trat sofort von dem Gebäude weg, in dessen Schatten er Schutz gesucht hatte. Seine Knie drohten nachzugeben, als das Erdbeben die Stadt erschütterte. Gabriel trat mitten auf die Straße hinaus, weg von den herabstürzenden Trümmern, stellte die Beine auseinander und schaute wieder zu dem Fenster im vierten Stock. Das Beben wurde immer stärker, und ein vielstimmiges Heulen gesellte sich zu dem Grollen, als unzählige Alarmanlagen ausgelöst wurden. Dann, im selben Augenblick, da der Lärm und das Beben seinen Höhepunkt erreichte, verloschen alle Lichter in der Stadt.
*
Im Krankenhaus folgten ängstliche Schreie auf die plötzliche Dunkelheit, die durch den Gang vom Hauptgebäude hallten.
Vater Ulvi war es gelungen, sich unter einen Türsturz zu stellen, und nun klammerte er sich an den Rahmen. Weiter den Flur hinunter war ein lauter Knall zu hören, als irgendetwas Schweres in einer der schon teilweise renovierten Abteilungen umfiel. Draußen kreischten die Alarmanlagen geparkter Fahrzeuge. Es klang, als würde ein furchtbarer Dämon in den Straßen Amok laufen. Doch für Vater Ulvi war das der Klang der Gelegenheit.
Sobald das Beben vorbei war, würde jeder desorientiert und viel zu beschäftigt sein. Niemand würde kommen, wenn in einem abgelegenen, alten Flügel wie diesem plötzlich ein Alarm ertönte. Und Unfälle passierten während eines Bebens. Steine und Glas fielen herab, und es gab Kurzschlüsse sowie Kabel, die Funken schlugen. Das war perfekt. Vater Ulvi musste nur noch den Polizisten loswerden. Er hielt sich fest, bis das Gebäude wieder zur Ruhe kam. In der plötzlichen Stille hallte das ferne Schreien lauter durch die Gänge, und dazu kam nun das Heulen diverser medizinischer Geräte, die im ganzen Gebäude Alarm schlugen.
Vor sich sah Vater Ulvi, wie der Beamte ebenfalls die Tür losließ, unter deren Sturz er sich geflüchtet hatte; dann trat er in den verstaubten Flur hinaus. Er schaute zu dem schwachen Licht am Ende des Gangs; aus dieser Richtung kamen die meisten Schreie. Offensichtlich funktionierte die Notstromanlage des Hauptgebäudes, doch in dem Flur blieb es dunkel.
»Glauben Sie, wir sollten mal nachsehen, was da hinten los ist?«, fragte Vater Ulvi und ging in Richtung Licht. »Irgendjemand muss doch auch uns den Strom wiedergeben können.«
»Nein.« Der Polizist trat ihm in den Weg. »Sie bleiben hier und sehen in den Zimmern nach. Stellen Sie sicher, dass niemand verletzt ist.«
Vater Ulvi blieb stehen und schaute zu, wie der Beamte hinter der Ecke verschwand. Er lächelte. Er hatte nie gesehen, dass der Polizist das Zimmer des Mönchs betreten hätte, und so hatte er jetzt auch gehofft, dass ihm das einen Vorteil verschaffen würde. Wenn der Mann schon bei Licht nicht dort reinging, dann bestimmt nicht bei völliger Dunkelheit. Vater Ulvi hatte darauf spekuliert, dass der Beamte anbieten würde, an seiner Stelle ins Hauptgebäude zu gehen und sich um den Strom zu kümmern. Und das hatte er nun auch getan, und Vater Ulvi war allein. Er holte die Zimmerschlüssel aus der Tasche und suchte mit Hilfe des Lichts seines Handydisplays nach demjenigen mit der Nummer 410.
Ladys first , dachte er und ging zu Kathryn Manns Tür.
36
Gabriel starrte am Krankenhaus hinauf und lauschte auf das Schreien panischer Patienten, das sich mit den unzähligen anderen Geräuschen mischte, die durch die ganze Stadt hallten.
Im Hauptflügel war die orangefarbene Notfallbeleuchtung angegangen, doch die Nebengebäude waren dunkel. Gabriel richtete den Blick auf das Fenster, von dem er glaubte, es gehöre zum Zimmer seiner Mutter. Wenn sie doch nur ans Fenster treten würde, dann wüsste er, dass es ihr gutging. Hinter ihm bog ein Wagen in die Straße, die Scheinwerfer auf Fernlicht gestellt. Gabriel drückte sich tiefer in die Schatten hinein, den Blick nach wie vor auf das dunkle Fenster im vierten Stock gerichtet. Der Wagen kam näher, bog um die Ecke, und das Licht seiner Scheinwerfer traf auf das dunkle Gebäude vor ihm. In diesem Moment sah Gabriel jemanden an dem Fenster im vierten Stock stehen, doch die Gestalt hatte einen auffälligen weißen Priesterkragen, und sofort schrillten bei Gabriel die
Weitere Kostenlose Bücher