Sacramentum
betrachtete sie, bis die Kabine nach hinten kippte, und die Räder den Boden verließen. Im gleichen Augenblick spürte sie, wie sich etwas in ihrem Magen zusammenzog, als wäre irgendetwas in ihr fest mit dem Boden verbunden und wurde nun unerträglich straff gespannt, als das Flugzeug von ihm abhob. Liv schnappte nach Luft, klappte nach vorne und rang um Atem. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, wie der Passagier neben ihr sich besorgt zu ihr beugte. Das Ziehen wurde immer stärker, bis Liv das Gefühl hatte, durch den Flugzeugboden gezogen zu werden; dann schien etwas zu reißen, und gierig sog sie die Luft in die Lunge. Es folgte eine Welle der Übelkeit zusammen mit dem seltsamen Gefühl auf der Haut, das sie auch schon in der Abflughalle gehabt hatte. Die milden g-Kräfte, denen sie in dem steigenden Flieger ausgesetzt war, halfen auch nicht gerade. Liv drehte den Kopf und zwang sich, die Person neben ihr anzulächeln. Sie murmelte etwas von wegen der Nerven; dann schloss sie die Augen und atmete tief und langsam. Allmählich wurde sie das alles leid. Es war, als hätte irgendjemand eine Voodoo-Puppe von ihr und würde ständig Nadeln in sie reinstechen.
Das Flugzeug kippte zur Seite, und Liv hatte das Gefühl, als würde sie mitkippen. Sie atmete weiter, bis die Übelkeit verflog und sie sich wieder sicher genug fühlte, um erneut die Augen zu öffnen.
Draußen sah sie die Sterne am Himmel und unter sich die Lichter von Trahpah, das in den Ausläufern des Gebirges lag. Sie stellte sich vor, jedes dieser Lichter sei ein Mensch und einer davon Gabriel.
Wenn du die Chance hast , hatte er gesagt, dann geh so weit weg von der Zitadelle, wie du kannst. Versteck dich … bis ich dich finde.
Sobald sie in Newark war und wieder einen klaren Kopf und ihr Erinnerungsvermögen hatte, würde sie ihn anrufen; dann könnten sie reden. Liv hatte so viele Fragen über das, was in der Zitadelle geschehen war, aber auch über ihn. Sie kannte ihn kaum und doch: Inmitten all der Finsternis und all der Merkwürdigkeiten der letzten Wochen waren ihre Gedanken immer wieder zu ihm zurückgekehrt. Gabriel überstrahlte alles … wie die Lichter, auf die sie nun hinunterschaute.
Das Flugzeug erbebte leicht, als die Höhenwinde es packten, und die Lichter unter Liv verschwanden langsam. Sie gingen eins nach dem anderen aus, als würde die Stadt nach und nach ausgeschaltet.
Liv schaltete ihre Leselampe ein. Die geheimnisvollen, dunklen Symbole auf ihrer Hand waren deutlich zu sehen. Sie griff nach dem Buch, das sie sich gekauft hatte, und schaute sich das Cover an. Es hieß Das Mysterium Verlorener Sprachen . Vielleicht würde sie hier ja ein paar Antworten finden.
*
Acht Reihen hinter ihr saß ein großer, breiter Mann im Anzug in der Economy-Klasse, deren Sitze eigentlich für Menschen gedacht waren, die halb so groß waren wie er. Sein Blick war auf Livs blondes Haar fixiert, das im Zwielicht der Kabine förmlich glühte. Sie las etwas. Der Mann fragte sich, was. Er mochte Bücher. Sie waren voller Worte, und Worte waren wie Magie für ihn. So hatte er während seines ersten Knastaufenthalts auch seinen Spitznamen bekommen: Dick, als Kurzform für Dictionary. Manchmal machten sich Leute über diesen Namen lustig, als bedeute er etwas Schmutziges, doch das Lachen blieb ihnen rasch im Halse stecken. Dick wusste genau, wenn jemand seinen Namen absichtlich falsch betonte, damit es wie ›Schwanz‹ oder ›Dödel‹ klang. Das war das Problem mit der Sprache: Sie besaß so viel Macht und war gleichzeitig doch so schwer zu fassen. Man musste sich auf jedes einzelne Wort konzentrieren und sie korrekt benutzen, um zu vermitteln, was man wollte. Deshalb mochte Dick auch starke Worte so gern. Reine Worte. Worte, die nur eine Bedeutung hatten. Im Augenblick war eines seiner Lieblingsworte:
Un-er-war-tet .
Als die Sache im Knast schiefgelaufen war, hatte man ihm gesagt, seine Mission sei vorbei. Es war nicht seine Schuld; so etwas passierte nun einmal. Man konnte ihn viel zu leicht erkennen, und der Zeuge war entkommen. Also hatte man ihm einen neuen Auftrag gegeben.
Dick war in sein Hotelzimmer gefahren, hatte seine Sachen zusammengesucht und den Anzug angezogen, der seine Tattoos verdeckte und ihn schmaler wirken ließ. Dann hatte er sich ordentlich gekämmt und war geradewegs zum Flughafen gefahren. Dort hatte er dann ausgesehen wie jeder andere Geschäftsmann auch, der auf dem Weg nach Gott weiß wohin war. Und Gott hatte es
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