Sacramentum
ein Buch.« Gabriel schob die Hand unter die Matratze und fand es. »Es wird dir den Weg weisen. Dein Großvater hat es mir nach seinem Tod vermacht, und nun vermache ich es dir. Du wirst wissen, was es bedeutet. Jetzt liegt es an dir. Jetzt liegt alles an dir.« Sie rang nach Luft. »Sie dürfen dich hier nicht finden. Nimm dieses Wissen und geh … benutze es gegen sie. Lass das deine Rache sein.«
Wieder nahm sie einen rasselnden Atemzug. Dann starrte sie ihrem Sohn ins Gesicht.
»John«, sagte sie, und ihr Gesicht leuchtete vor Freude auf, »du bist zurückgekehrt. Zu mir.«
Gabriel musste unwillkürlich schlucken, als er den Namen seines toten Vaters hörte. »Ja«, sagte er, »ich bin zu dir zurückgekehrt.«
»Ich habe dich vermisst, John«, sagte Kathryn. Ihre Augen verloren den Fokus, und sie konnte kaum noch sprechen. »Ich habe mich immer gefragt, warum du nie Lebewohl gesagt hast.«
Gabriel wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, doch es war ohnehin zu spät. Kathryns Augen waren nach wie vor geöffnet, doch sie sah nichts mehr. Zitternd streckte er die Hand aus und legte sie auf ihren noch immer warmen Hals.
Da war kein Puls mehr. Seine Mutter war tot.
Erneut fühlte Gabriel, wie die Wut in ihm hochkochte. Die Luft flackerte um ihn herum, als entzünde sein Zorn die Nacht; doch es war die Notbeleuchtung, die nun auch für diesen Trakt aktiviert worden war. Im goldenen Schein der Notfalllampen war seine Mutter wunderschön. Ihr dunkles Haar umrahmte ihr blasses Gesicht, und ihre Haut war wunderbar glatt. Der Schmerz, den sie seit dem Tod seines Vaters mit sich herumgetragen hatte, war verschwunden. Gabriel beugte sich vor und küsste sie. Die Tränen tropften ihm aus den Augen und auf ihre Wange. Er streckte die Hand aus und wischte sie mit dem Daumen weg.
Geräusche hallten durch den Korridor. Gabriel warf einen letzten Blick auf seine Mutter, steckte das Buch in die Tasche und verließ den Raum.
Nimm dieses Wissen, und benutze es gegen sie , hatte sie gesagt.
Wenn all das vorbei war, würde er noch genügend Zeit zum Trauern haben. Jetzt war zunächst einmal die Zeit für Rache.
Gabriel ging über den Flur zu dem Tisch mit den beiden leeren Stühlen daneben – einer für den Cop, der andere für den Priester. Der Cop war erledigt. Er lag draußen auf der Straße und war vielleicht schon tot. Wo der Priester war, wusste er nicht.
Gabriel überflog die Anmeldeliste und schaute sich die Zimmernummern an, die früher am Tag besucht worden waren. Er sah Arkadians Namen vor den Zimmern 410 – dem Raum seiner Mutter – und 406. Das musste Livs gewesen sein. Die einzige andere Zimmernummer war 400. Dort lag der letzte überlebende Sanctus aus der Zitadelle.
Gabriel zog die Waffe aus seinem Hosenbund, ging den Gang hinunter und schaute auf die Zimmernummern. Die Tür zu Zimmer 400 stand ein Stück offen. Gabriel schob sie mit dem Lauf der Waffe auf. Im Zimmer war es dunkel; dennoch sah er eine reglose Gestalt auf dem Bett. Den zerknüllten Laken und dem verdrehten Körper nach zu urteilen, war der Mönch nicht kampflos gestorben, doch die Menge an Blut auf Bett und Boden verriet, dass es ihm nichts genützt hatte.
Plötzlich hallte ein Stimmenchor durch den Flur und riss Gabriel aus seinen Gedanken. Da kam jemand.
Sie dürfen dich hier nicht finden , hatte seine Mutter gesagt.
Gabriel drehte sich um, rannte auf die Stimmen zu und duckte sich im selben Augenblick in das verlassene Hausmeisterzimmer, als eine Gruppe von Krankenpflegern um die Ecke bog und auf die Zimmer zuhielt, wo die Toten warteten.
Gabriel stieg auf die Gerüstplattform hinaus und nahm sich das zweite Seil. Allmählich kehrte das Leben in die Stadt zurück: Die ersten Straßen hatten schon wieder Licht, und es würde nicht mehr lange dauern, bis die ganze Stadt wieder erstrahlte und man den Cop auf der Straße unten fand. Gabriel musste fort von hier, solange er die Dunkelheit und das Chaos noch auf seiner Seite hatte, und bevor die Trauer ihn überwältigte.
In der Ferne waren die Umrisse der Zitadelle im Mondlicht zu sehen. Heute Nacht hatte sie mit ihren Tentakeln in die Stadt gegriffen, doch sie hatte nur zwei der vier Menschen gefunden, die sie zum Schweigen bringen wollte. Gabriel war genauso entkommen wie Liv, und während er nun auf den Berg starrte, schwor er sich, dass sie keine zweite Chance bekommen würden.
Er würde Liv finden, und dann würden sie gemeinsam Rache nehmen. Doch jetzt musste er erst einmal
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