Sacramentum
führte ihn hinein. »Was ist denn?«
»Kathryn«, brachte er mühsam hervor. »Meine Mutter.«
Miriam drückte ihn an sich und klopfte ihm den Rücken, als wäre er noch ein Kind. Gabriel war gerührt von ihrem Mitgefühl, besonders da sich Dr. Anata für gewöhnlich eher reserviert zeigte. Er versuchte, ihr zu danken, ihr alles zu erklären, doch er blieb stumm. Die Trauer hatte ihm die Stimme geraubt.
44
In Folge des Bebens herrschte auch in der Zitadelle große Aufregung. Die meisten Mönche hatten geschlafen, als die Erde erzitterte und sie aus ihren Betten geworfen und in die Gänge getrieben hatte, wo sie das Schlimmste überstanden hatten. Athanasius war einer von ihnen gewesen, und er hatte seitdem den größten Teil der Zeit damit verbracht, seine Mitbrüder zu beruhigen und ihnen zu erklären, dass das in der Tat ein Erdbeben und keine weitere Bombe gewesen war. Dass es aus dem Garten nach Rauch stank, hatte ihm nicht gerade dabei geholfen.
Wenigstens war der Strom nicht ganz ausgefallen, und sie hatten genug Licht gehabt, um das Ausmaß des Schadens zu bestimmen. Überraschenderweise war er gering. Es war, als hätte die Explosion vor zehn Tagen die schwächeren Teile des Berges bereits zerstört, und das Beben hatte nur noch die Stärke dessen prüfen können, was übrig geblieben war. Hier und da hatte man ein paar Steinschläge entdeckt, und die Bibliothek wurde noch einmal überprüft, um sicherzustellen, dass keine Bücher beschädigt worden waren, doch abgesehen davon war die Zitadelle noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen, und rasch kehrte wieder die Normalität zurück. Die Felshaufen wurden bereits weggeräumt, und viele Mönche waren in ihre Dormitorien und Kapellen zurückgekehrt, um weiter zu schlafen oder zu beten.
Athanasius war gerade auf dem Weg zu seiner Zelle, als er Bruder Axel begegnete, der aufgebracht auf ihn zueilte. »Das ist alles deine Schuld«, sagte Axel und richtete den Finger auf Athanasius. »Zuerst der Garten und jetzt das. Das wäre alles nicht geschehen, wenn die Sancti noch hier und das Sakrament sicher wäre.«
Athanasius schaute hinter sich, um sich zu vergewissern, dass sie allein waren. Dann senkte er die Stimme, damit sie nicht durch die Tunnel hallte. »Das ist abergläubiges Gerede und weist dich nicht gerade als Führer deiner Brüder aus. Du solltest besser als jeder andere wissen, dass man in Zeiten wie diesen Ruhe und nicht Angst vermitteln muss. Wir brauchen Ordnung, kein Chaos.«
»Wir hatten Ordnung. Wir hatten Tausende von Jahren lang Ordnung. Und jetzt ist alles innerhalb von nur ein paar Wochen verschwunden.«
»Die Ordnung wird wieder zurückkehren«, erklärte Athanasius. »Rückkehr ist Ordnung.«
»In der Tat. Du glaubst, alle sehen das so wie du, aber ich denke, du wirst eine Überraschung erleben. In unsicheren Zeiten klammern die Menschen sich an die Tradition, und das werde ich ihnen bieten. Die Wahlen werden ja zeigen, wie die allgemeine Meinung ist.«
Athanasius wollte gerade etwas darauf erwidern, als ein Geräusch die beiden Mönche innehalten ließ.
Es war die Angelus-Glocke in der Tributhöhle tief im Berg.
Irgendjemand war draußen und bat darum, eingelassen zu werden.
45
Gabriel zwang sich Stück für Stück, die Geschichte zu erzählen, und verdrängte seinen Schmerz und seine Trauer, bis die Details nur so aus seinem Mund flossen und Leid sich in Zorn verwandelte. Als er Dr. Anata alles erzählt hatte, gab er ihr das Tagebuch und ließ sich auf das Ledersofa sinken. Er war zu Tode erschöpft.
Sie saßen in dem, was einst ein großer Empfangssaal gewesen war und nun als Bibliothek diente. Überall standen oder lagen Bücher. Da es noch immer keinen Strom gab, stammte das einzige Licht von Kerzen, und der Raum sah aus wie etwas, das eher in die ferne Vergangenheit als in die moderne Stadt gehörte, die sich hinter den schweren Vorhängen verbarg.
Dr. Anata starrte das Tagebuch an. Ihr Entsetzen war ihr deutlich anzusehen. Sie hatte Kathryn Mann schon ewig gekannt und inoffiziell als ihre Beraterin gearbeitet. Sie hatte all ihr Wissen und ihre Entdeckungen, was die Zitadelle betraf, mit ihr geteilt. Genau wie Gabriels Familie so war auch sie eine Mala, ein Abkömmling einer der zwei ältesten Menschheitsstämme. Der andere waren die Jahwe, die Bewohner der Zitadelle, die das Sakrament gestohlen und seine Macht für ihre eigenen Zwecke missbraucht hatten.
Gabriel sah die Tränen in den Augen seines Gegenübers
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