Saeculum
Gesicht ein feierliches Leuchten, sie wirkte wie eine Priesterin, die eine geheime Zeremonie durchführt.
»Komm«, sagte er und nahm sie bei den Schultern. »Setz dich zu uns ans Feuer. Bitte.«
Sie schüttelte seine Hände ab. »Geh weg. Du verstehst nichts von dem, was ich tue.«
»Nein. Natürlich nicht.« Er suchte nach Worten. »Ich weiß nur, dass du versuchst, uns zu helfen, das ist großartig von dir. Aber ich möchte nicht, dass du dich erkältest. Komm ans Feuer, okay?«
Sie lachte. »Über Erkältungen müssen wir uns im Moment am wenigsten Sorgen machen, oder?«
Na gut. Dann sollte sie eben mit dem Totenschädel sprechen, der würde es aushalten.
»Versuch, leise zu sein«, bat Bastian, richtete sich auf und ging ein paar Schritte zur Seite, wieder darum bemüht, nicht auf Knochen zu treten. Vorsichtig umrundete er den zweiten der Steinsärge. Nach hier hinten drang kaum noch Feuerschein, trotzdem konnte Bastian einmal mehr den Mann ausmachen, dem die Axt im Kopf steckte. Er wandte den Blick ab - und trat auf etwas, das unter seinem Fuß knirschend nachgab. Mit einem unterdrückten Aufschrei sprang er zur Seite und hätte sich im nächsten Moment für seine Unbeherrschtheit ohrfeigen können. Prompt waren einige der Schlafenden erschrocken hochgefahren.
»Tut mir leid, alles in Ordnung«, rief er und bückte sich. Nein, Gott sei Dank, es war kein Knochen gewesen. Eher so etwas wie Holz. Er hob es auf. Alles, was brennbar war, war wertvoll.
Wieder ein leicht gewölbtes Stück Rinde, fast quadratisch. Im Halbdunkeln erkannte Bastian darauf den vertrauten Umriss: den braunroten Falken.
Sein Herz schlug schneller. Die Botschaften mit dem Falken hatten noch nie etwas Gutes bedeutet, aber vielleicht war diese anders, vielleicht lieferte sie einen Hinweis. Auf Wasser. Oder einen Ausgang. Er sah sich um - Doro hatte nichts von seiner Entdeckung bemerkt. Gut so. Nur leider war es hier zu dunkel, um zu lesen. Langsam und vorsichtig ging Bastian weiter ins Licht. Ja, der Falke und darunter wieder Sätze, in verblassten, verwischten altertümlichen Buchstaben.
Ich habe gerufen, nun seid ihr hier,
um für meine Rache zu sterben.
Zwei Brüder sehe ich vor mir,
den Bastard und den Erben.
Nur einer muss bleiben, der Reiche der beiden,
der, der den Namen des Vaters trägt.
Er teile mein Grab und meine Leiden,
bis hier seine letzte Stunde schlägt.
Ihr bleibet alle in meinem Reich,
wenn ihr nicht opfert den einen
und tötet ihn schnell mit einem Streich
oder langsam unter den Steinen.
Dann sind die anderen frei zu gehen,
zu atmen, zu leben, die Sonne zu sehen.
Bastian las den Text zweimal und verbarg das Holzstück dann schnell in seinem Ärmel.
Ich habe gerufen, nun seid ihr hier. Was für ein Wahnsinn. Niemand hatte gerufen. Aber sie waren hier, das konnte man nicht bestreiten.
Er presste die Lippen aufeinander, um nicht loszulachen. Ganz ruhig. Ausatmen. Er holte das Rindenstück noch einmal hervor. Worum ging es da? Um ein Opfer. Tristram verlangte, dass jemand getötet werden sollte.
Oh gut, jetzt fängst du selbst schon mit diesem Tristram-Irrsinn an. Aber die Botschaft war da, sie war unbestreitbar vorhanden. Jemand musste sie geschrieben und hier deponiert haben.
Bastian schüttelte den Kopf, doch dadurch wurde nichts klarer. Klar war nur, dass man diese neuen Verse vor Doro verstecken musste. Sie brannte ja geradezu darauf, dass Tristram zu ihr sprach, und sie würde sich auf diese Botschaft stürzen wie eine Ertrinkende auf ein Stück Treibholz.
Aber Iris wollte er sie zeigen. Sie fragen, ob sie nicht doch Simons Schrift erkannte.
Er wartete, bis er sicher war, dass keiner der anderen ihn beachtete. Dann winkte er sie zu sich, zog sie von der Gruppe fort, so weit, dass das Licht des Feuers gerade noch zum Lesen ausreichte. Er nahm sie in den Arm, tat, als suche er nur einen ungestörten, intimen Moment mit ihr, und zog vorsichtig die Rinde aus dem Ärmel.
»Schon wieder ein Gedicht«, flüsterte er. »Sieh es dir mal an. Klingt das nach Simon?«
Sie las schnell und mit gerunzelter Stirn. »Nein. Das war schon bei den vorhergehenden nicht so. Wenn die Botschaft von ihm wäre, würde sie ›Haut jemandem den Schädel ein‹ lauten. Klar, knapp und brutal.«
»Aber dann verste-«
»Was habt ihr da?« Georg war lautlos aufgestanden und näher gekommen, so leise, dass sie es beide nicht bemerkt hatten.
»Nichts. Alles in Ordnung.«
»Verkauf mich nicht für blöd.« Er streckte die Hand aus.
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