Saeculum
neben Arnos Bahre ging, an Paul und Lars. Nur Carina überholte sie nicht, sie blieb an ihrer Seite, keuchend und mit Seitenstechen, doch das war ihr egal. Je schneller sie lief, desto wohler fühlte sie sich.
Als sie endlich am Ziel waren, begann es bereits zu dämmern. Das große Zelt stand noch, obwohl es ziemlich mitgenommen aussah. Eine Stange war umgekippt, das Dach eingerissen, die losen Fetzen flatterten im Abendwind.
Iris stürzte hinein. Da lag ihr Rucksack, dort Bastians. Sie durchkramte ihre Sachen. Fand die LED-Taschenlampe, deren Batterien praktisch ewig hielten, und zwei Plastikflaschen voll Wasser. Das Handy, im Moment völlig nutzlos. Zwei Dosen mit Corned Beef Chips, geschmolzene Schokoriegel, ein altes Stück Brot mit ersten Schimmelspuren.
Gut, der Rucksack kam als Ganzes mit.
Sie begann, Bastians Sachen zu durchsuchen. Seine Brille! Sie wickelte sie aus dem Leinentuch, in das sie eingeschlagen war, und hatte sofort sein Gesicht vor sich, so, wie sie ihn kennengelernt hatte. Als Musterschüler.
Die Brille wanderte in ihren Rucksack, sie schien das einzig Wichtige in seinem Gepäck zu sein.
Vor dem Zelt knieten Mona und Carina, jeweils eine Flasche Wunddesinfektion in der Hand. Sie versorgten vor allem Arno, aber auch die Schwertwunden von Georg, Nathan und Paul, der nur kurz zusammenzuckte, als Carina großzügig Jod über seine Brust verteilte. Er war damit beschäftigt, Empfang mit seinem Handy zu bekommen.
»Dominik? Oh, gut, dass ich dich gleich erreiche. Ja. Ich weiß, wir waren nicht am Treffpunkt, aber jetzt sind wir es. Kannst du kommen? Wir haben einen Schwerverletzten, der muss ins Krankenhaus, wir brauchen also einen Krankenwagen, auch wenn der nicht durchs Gelände kann. Aber wenigstens bis zum Ende der befestigten Straße sollte er fahren können. Was? Na gut, aber beeil dich bitte.«
Er steckte das Handy weg.
»Dominik kommt mit dem Jeep, wird etwa eine Stunde dauern, und dann muss er noch zu Fuß über den Erdrutsch. Aber er bringt einen Kumpel und eine ordentliche Trage mit.«
Jemand verteilte Knäckebrot, das wie Pappe mit Sesam schmeckte, trotzdem war es in kürzester Zeit weg. Das Orga-Team hatte Konserven im Zelt deponiert, die nun ebenfalls geöffnet wurden. Kalte Gulaschsuppe, Jagdwurst, Bohneneintopf. Sie schlangen hinunter, was sie zu fassen kriegten.
»Wir gehen dann zurück, ja?« Iris nickte Paul zu. »Ich habe meine Taschenlampe und Bastians Brille eingepackt. Wenn jemand Brot übrig hat oder Ähnliches, dann würde ich ihm das gerne mitbringen.«
»Nein«, sagte Paul. »Ich gehe und du siehst zu, dass du mit den anderen ins nächste Dorf kommst.«
»Was? Auf keinen Fall. Ich habe ihm versprochen, dass ich wiederkomme.«
Paul lächelte. »Ich glaube, er wird froh sein, wenn du in Sicherheit bist. Bleib bei der Gruppe. Ich nehme Lars und Carina mit, die beiden sind zäh.«
»Kommt nicht infrage.« Sie musste ihre Wut zügeln, Paul meinte es ja nur gut, aber offenbar verstand er nicht, wie wichtig das für sie war.
»Jetzt hör mir mal zu!« Pauls scharfer Ton ließ Iris zusammenzucken. »Ich bin heilfroh, dass ich euch alle lebend bis hierher gebracht habe. Du pfuschst mir jetzt nicht rein und rennst zurück in den Keller, bringst dich in Gefahr, bloß um Bastian das Händchen zu halten! Ich hole ihn und bis dahin wird er es aushalten. Er ist weder krank noch aus Zucker!«
Paul gab Georg einen Wink, wollte er etwa, dass der sie festhielt?
Nicht mit mir. Blitzschnell schulterte Iris ihren Rucksack und rannte den Weg zurück, den sie gekommen waren, ohne sich umzuwenden. Das Gestrüpp war an vielen Stellen niedergetreten, das machte es einfacher, sie würde den Weg ohne große Probleme finden.
Der erste Hügel. Geschafft. Hinter eine dicke Fichte springen und ein schneller Blick über die Schulter: Niemand war ihr gefolgt. Sie atmete durch. Weiter.
Sie musste eine Möglichkeit finden, das Gitter alleine von der Grube zu bekommen. Eine Stange, etwas, das man als Hebel benutzen konnte. Der Spaten! Es hatte doch diesen Spaten gegeben, mit dem Bastian die Latrine ausgehoben hatte! Er musste noch auf der Wiese liegen. Wenn der Holzstiel massiv genug war, konnte sie vielleicht das Gitter aus seiner Verankerung hebeln und Bastian befreien. Ohne Hilfe. Und Paul eine lange Nase drehen.
Iris lief weiter, fühlte sich leicht, trotz des Seitenstechens, das sich zu melden begann. Nicht mehr lange und sie würde da sein. Noch bevor endgültig die Sonne unterging.
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