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Saeculum

Titel: Saeculum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Poznanski Ursula
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springen, ohne dass es Lärm machen würde.
    Schnell zurückschauen. Nein. Kein Verfolger. Gut! Dann weiter.
    Hinter jedem Felsen duckte sie sich. Simon war längst außer Sichtweite und er würde sie aus dieser Entfernung auch nicht mehr hören, trotzdem wagte Iris es nicht, einfach zur Wiese zu laufen. Sie kannte ihn, er konnte überall sein, blitzartig auftauchen und wieder verschwinden. Immer noch meinte sie, den Geruch seines Tabaks zu riechen, als würde er an ihr kleben.
    Sie hielt an, bevor sie den Waldrand erreichte, versuchte nachzudenken und die ganze Sache zu begreifen. Er war also wirklich hier, war es vermutlich die ganze Zeit über gewesen. Hatte sich ihr aber kein einziges Mal gezeigt.
    Wieso? Es musste doch einen Zusammenhang zwischen ihm und all den Unglücksfällen geben, aber welchen? Sie kapierte es nicht.
    Ein neuer Gedanke verwandelte ihren Mageninhalt zu Blei. Konnte Simon wissen, dass Bastian im Verlies saß? Wahrscheinlich, ja. Möglicherweise war er sogar schon bei ihm gewesen …
    Noch hundert Meter bis zur Lagerwiese, höchstens. Nun wurde es dunkel, schneller, als sie es erwartet hatte.
    Iris blickte sich um, ein letztes Mal, dann huschte sie auf den Saum des Waldes zu. Flog über die Wiese, auf die Gräber zu, sprang in das zweite von links.
    Da war die Öffnung. Der Durchgang.
    Sie hatte vorgehabt, die ganze Zeit über zu singen, laute, fröhliche Lieder, damit Bastian sie so bald wie möglich hören würde. Damit er wusste, dass sie auf dem Weg zu ihm war. Doch das wagte sie nun nicht mehr.
    Taschenlampe an. Der helle Kegel zeigte rissige Steinwände, ein riesiger Tausendfüßler brachte sich vor dem ungewohnten Licht in Sicherheit. Iris leuchtete auf den Boden, der so eben war, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Trotzdem war der Tunnel jetzt unheimlicher, als er es vorhin im Schein der Fackel gewesen war. Das kalte Taschenlampenlicht ließ ihn wie einen unbarmherzigen Schlund erscheinen, eine Kehle, die sie verschlucken würde.
    Sie ging weiter. Erst mal zu Bastian, dann war alles gut. Dann war sie nicht mehr allein. Paul würde bald da sein, mit Carina und Lars. Vielleicht kam auch Warze mit. Nicht mehr lange und sie hatten es geschafft.
    Der Lichtkegel tanzte zittrig über die Wände. Wann kam endlich das Loch, das nach oben führte? Es musste auf der linken Seite sein, ungefähr auf Höhe ihrer Schulter.
    Da, ein dunkler Fleck, schwärzer als der Rest. Das war der Spalt. Iris klemmte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne und zog sich hoch. Es war schwierig und es kostete sie mehrere Anläufe, doch das Wissen, dass Simon draußen im Wald war und sicher, ganz sicher irgendwann hier auftauchen würde, trieb sie an.
    Oben angekommen, tastete sie das Gewölbe mit dem Strahl ihrer Lampe ab. Orientierte sich. Hier waren die Reste des ersten Lagerfeuers, dort oben der Schacht. Sie leuchtete hinauf, betrachtete den Stein, der den Ausgang verschloss.
    Da war der Korridor, sie lief ihn entlang, kletterte über den Schutthaufen. Vor ihr lag der große Kellerraum mit seinen Nischen. Mit der Gruft.
    Den Resten des Massakers allein gegenüberzustehen war beklemmender, als Iris erwartet hatte. Doch sie würde die Gruft durchqueren müssen, wenn sie zu Bastian wollte.
    »Hi, Tristram«, flüsterte sie. Der Klang ihrer eigenen Stimme flößte ihr Mut ein. »Sorry, dass ich dich schon wieder störe. Kommt nicht noch mal vor, versprochen.«
    An der Wand bei der alten Kapelle lehnte ihre Harfentasche. Durch das Leder der Hülle fühlte Iris das glatte Holz des Resonanzkörpers. Sie hängte sich die Tasche über die Schulter. Wieder ein Stück Sicherheit zurückgewonnen.
    Der Lichtkegel berührte die Knochen der Getöteten. Hatte der Kerl mit dem fehlenden Bein vorhin nicht anders gelegen? Nein, Quatsch. Sie zögerte.
    Was, wenn sie gleich den Kerker betrat und niemand mehr dort war? Wenn Bastian etwas zugestoßen war? Wenn ein neuer Schrecken sie dort unten erwartete?
    Ruhig, ruhig, ruhig. Sie befeuchtete die Lippen mit der Zunge. Nichts würde so furchtbar sein wie der Film, der in ihrer Fantasie ablief.
    Sie packte die Taschenlampe fester und marschierte entschlossen zwischen den Steinsärgen hindurch. Nichts passierte, natürlich nicht, sie durfte sich von der Umgebung nicht einschüchtern lassen.
    Der Grabstein, der den Zugang zur Wendeltreppe verschlossen hatte, war immer noch zur Seite gerückt, ein Glück. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn an seinen ursprünglichen Platz

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