Saeculum
Der ganze Spuk war vorüber. Alles war gut.
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Er hielt die Luft an. Nein. Nein, da war nichts. Anfangs hatte er noch gedacht, er würde mitkriegen, was die anderen oben taten. Doch das war ein Irrtum gewesen. Keine Schritte, keine Stimmen. Kein Licht.
Einmal mehr riss er die Augen so weit wie möglich auf, doch die Finsternis um ihn herum war undurchdringlich. Wenigstens tasten konnte er noch. Tasten und riechen.
Er wünschte, er hätte gewusst, wie viel Zeit vergangen war. Große Teile der Ewigkeit mussten es sein. Den anderen war sicher längst das Holz ausgegangen, und wenn sie den letzten Tropfen Wasser getrunken hatten, würden sie ins Verlies hinuntersteigen und ihm wegnehmen, was er noch hatte. Vorausgesetzt, sie schafften das im Finstern.
Klonk.
Kurz, hart, zu seiner rechten Seite. Bastian versteifte sich. Es war das Geräusch von einem Stein gewesen, der auf Stein fällt. Das erste Geräusch seit Langem. Kam jemand die Treppe herunter?
Ich höre keine Schritte.
Er versuchte, sich zu konzentrieren. Wenn die anderen immer noch oben waren, was taten sie gerade? Was tat Iris? Würde noch einmal jemand zu ihm kommen, bevor es vorbei war?
Vorbei. Er legte sich hin und rollte sich zusammen. Es war kalt, aber nicht kalt genug, um zu erfrieren. Es würde wohl auf Verdursten hinauslaufen. Wenn sein und Iris' Trinkbeutel leer waren, hatte er noch vier Tage. Fünf, mit etwas Pech. Unermessliche, quälende Ewigkeiten.
Bastian tastete um sich. Sandra hatte einen Krug in ihrer Grube gehabt, erinnerte er sich. Doch er wusste nicht mehr, ob sie ihn hiergelassen oder mit nach oben genommen hatte. Wenn da auch noch ein wenig Wasser drin war …
Seine Hand wanderte über den Boden. Vorsichtig, um nicht das umzukippen, wonach er suchte. Nein, kein Krug. Nichts außer Stein und Erde. Und …
Seine Finger schlossen sich um ein rundes, glattes … Etwas. Kein Stein, eher Metall. Und daran hing … eine Kette.
Bastian befühlte seinen Fund, drehte ihn zwischen seinen Händen. An einer Seite des Gegenstands war eine Erhebung wie eine kleine Metallzunge. Er drückte dagegen und fühlte, wie etwas aufsprang. Im gleichen Moment wusste er, was er gefunden hatte.
Lisbeths Medaillon. Er fuhr mit dem Zeigefinger über den Inhalt. Kleine Scheiben. Rund und flach.
Wie war das hierhergekommen?
Er konnte es sich nicht zusammenreimen. Oder doch - vielleicht hatte derjenige, der Sandra hier eingesperrt hatte, es Lisbeth vorher gestohlen und an diesen Ort gebracht, wo es niemand jemals finden sollte.
Oder - Sandra hatte es dabeigehabt und hier verloren. Nur wieso? Sie hatte Lisbeth einen halben Tag lang bei der Suche geholfen, sie hätte ihr nicht verschwiegen, wenn sie fündig geworden wäre. Allerdings hatte sich ja herausgestellt, dass Sandra eine bessere Lügnerin war, als er geahnt hatte.
Während Lisbeths Anfall - Bastian kniff die Augen zusammen, bündelte seine ganze Konzentration. Sandra hatte ihr gegenübergesessen. Hatte sich ihren Sitzplatz genau ausgesucht. Sie war die Einzige, die von Lisbeths Epilepsie gewusst hatte.
Hatte Sandra den Anfall ausgelöst? Moment, ja, da waren Reflexionen gewesen, er hatte sie selbst bemerkt. Hatte Sandra sie verursacht? Absichtlich? Aber warum hätte sie das tun sollen?
Zu dumm. Er würde es wahrscheinlich nie erfahren und in gewisser Weise machte ihn das am wütendsten. Er würde sterben, ohne zu wissen, was wirklich passiert war. Wer hinter der ganzen Scheiße steckte, die ihnen zugestoßen war.
»Einer, der gern Gedichte schreibt«, murmelte er vor sich hin, erstaunt darüber, wie laut seine Stimme klang, obwohl er gedämpft sprach. »Einer, der Spielchen mag. Aber warum?«
Vielleicht war es besser, er fand sich mit der Fluchgeschichte ab. Die war wenigstens schlüssig. Gebrochene Beine und verätzte Haut. Sich öffnende Gräber und Menschen, die von der Erde verschlungen wurden. So
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