Saeculum
zu hieven, lohnte sich nicht, denn ihre Fahrt würde nicht mehr als zwanzig Minuten dauern.
Allmählich zeigten sich helle Streifen am Horizont und als sie beim nächsten Bahnhof umstiegen, begann die Sonne aufzugehen. Der zartrosa Himmel über dem gelben Bahnhofsgebäude erweckte in Bastian schon jetzt den Eindruck, eine andere Welt betreten zu haben. Sie teilten den Zug mit den ersten Pendlern, von denen keiner die erwachende morgendliche Landschaft eines Blickes würdigte. Dabei war sie wundervoll. Je weiter sie fuhren, desto ländlicher, ursprünglicher wurde sie. Grüne Felder wechselten sich mit Viehweiden ab, große Vierkanthöfe mit schlichten, weiß getünchten Bauernhäusern.
Bastian gegenüber saßen Georg und Lisbeth, aneinandergekuschelt. Lisbeths Augen waren geschlossen, ihr Atem ging gleichmäßig. Wie von selbst hakte sich Bastians Aufmerksamkeit an ihrem Gesicht fest. Ihr Mund war halb geöffnet wie zu einem gedankenverlorenen Lächeln und er ertappte sich dabei, dass er die Linien ihrer Lippen, den Schwung ihrer Nase und die Bögen ihrer Augenbrauen mit seinem Blick nachzeichnete und zu verstehen versuchte, was genau es war, das diesen Eindruck von Vollkommenheit erzeugte. Erst als er spürte, dass er selbst beobachtet wurde, und zwar von Georg, drehte er schnell den Kopf weg.
Nicht lange, und sie waren in Wieselburg. Bastian wuchtete seinen Rucksack auf den Bahnsteig und sah sich um. Es war jetzt hell. Die Bahnhofsuhr zeigte zehn Minuten vor sechs - trotzdem wurden sie schon erwartet.
»Da sind Martin und Dominik! Kommt!« Paul winkte den beiden zu, die, wie Sandra erklärte, hier aus der Gegend kamen.
Vor dem Bahnhofsgebäude warteten zwei Jeeps. »Ihr seid heute schon unsere zweite Fuhre«, sagte Dominik, während er die Rucksäcke verstaute. »Die Ersten sind mitten in der Nacht angekommen.«
Sie verteilten sich auf die beiden Fahrzeuge, fanden wundersamerweise alle Platz und fuhren los. Dominik redete die ganze Fahrt über munter vor sich hin, doch Bastian schaltete bereits nach wenigen Sätzen innerlich ab. Er saß am Fenster, oder besser gesagt ans Fenster gequetscht, und betrachtete die vorbeifliegende Landschaft. Erst überquerten sie die Donau, um mehrere Kilometer weit an ihr entlangzufahren, dann bogen sie rechts ab und von da an ging es stetig bergauf. Sie passierten einige Dörfer mit malerischen Kirchtürmen. Kühe glotzten ihnen hinterher. Danach kamen sie nur noch an drei Einzelgehöften vorbei. Die Wiesen verschwanden, hoher, dunkler Nadelwald ragte auf beiden Seiten der Straße auf und schluckte das Morgenlicht.
Einsamkeit. Bastian griff nach Sandras Hand, doch sie erwiderte seinen Druck nur kurz und wie nebenbei. Ihr Blick war starr geradeaus gerichtet.
Schließlich bogen sie auf einen unbefestigten Weg ein, der zwischen gefällten, zu Haufen gestapelten Bäumen bergauf führte. Dominik manövrierte um zahlreiche Schlaglöcher, aber es wurden trotzdem alle durchgerüttelt, wenn dicke Äste oder Wurzeln unter die Reifen gerieten.
Eine Zeit lang war der Weg noch zu erkennen, dann verlor er sich und der Jeep rumpelte über unebenen Waldboden weiter.
Erst als die Bäume so dicht standen, dass definitiv kein Durchkommen mehr war, brachte Dominik den Wagen zum Stillstand.
»Endstation. Den Rest der Strecke bis zum Treffpunkt müsst ihr gehen, hier wird es zu eng für den Dicken.« Er klopfte mit der flachen Hand auf das Lenkrad. »Weiter oben gibt es frisches Wasser und ein Zelt, in dem ihr eure Gewandung anlegen könnt. Alles Gute!«
Sie holten ihr Gepäck aus dem Auto, Dominik vollführte ein halsbrecherisches Wendemanöver und machte sich davon.
Der Wald begrüßte die Ankömmlinge mit dem majestätischen Rauschen seiner Baumkronen. Einige Augenblicke stand die Gruppe schweigend da und sah sich um, lauschte den Vogelstimmen, die zwitschernd und krächzend die Ankunft der Eindringlinge in ihrem Gebiet verkündeten.
»Na bitte«, flüsterte Sandra. »Da sind wir wieder.« Sie breitete ihre Arme aus. »Von wegen verfluchtes Land! Riechst du die Erde? Das Harz? Verflucht toll, das ja!«
Doro bückte sich nach einem Stock und begann, Zeichen in den Boden zu ritzen, ihre Lippen formten tonlose Worte. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Es ist nicht gut«, sagte sie. »Nicht gut. Etwas wartet auf uns.«
Während die anderen nur seufzten, verlor Sandra die Geduld.
»Es reicht!«, rief sie. »Hör endlich auf, uns alles zu vermiesen! Hol einfach tief Luft und sieh dich
Weitere Kostenlose Bücher