Saeculum
seiner Verzweiflung riss er das Schwert des verstorbenen Fürsten an sich, das auf dessen steinernem Grabmal lag. ›Wir sind Brüder!‹, rief er. ›Wenn du mich unbedingt tot sehen willst, dann kämpfe mit mir. Lassen wir das Schicksal entscheiden, ob ich den Tod verdiene oder nicht!‹
Ludolf lachte nur. Mit einem Wink bedeutete er seinen Soldaten, das Blutbad zu vollenden. Tristram wehrte sich mit all seiner Kraft, er tötete zwei seiner Gegner, bevor er so schwer verwundet wurde, dass ihm das Schwert aus den Händen glitt.
Sie zwangen ihn vor dem steinernen Sarg des Fürsten auf die Knie und nun war es Ludolf, der nach dem Schwert seines Vaters griff. Er hob es über den Kopf wie ein Schlachterbeil, dabei sah er seinem Bastardbruder tief in die Augen. In seinem Blick konnte Tristram erkennen, dass seine letzten Augenblicke gekommen waren. Und mit einem Mal wurde er ruhig. Die Angst, die ihn eben noch hatte zittern lassen, verflog und an ihre Stelle trat kalter und allumfassender Hass. Während er Ludolfs Blick erwiderte, stieß er einen furchtbaren Fluch aus:
Er verfluchte seinen Vater und seinen Bruder, die Burg und ihre Bewohner, den Boden, auf dem sie stand, und jeden, der jemals wieder einen Fuß darauf setzen würde. ›Im Tod trete ich das Erbe meines Vaters an!‹, rief er. ›Dies ist nun mein Land, es ist das Land der Bastarde und Ausgestoßenen, der Diebe, der Geächteten und Verratenen! Sie allein werden hier Frieden finden. Alle anderen, die mein Reich betreten, werden es auf ewig bereuen. Sie gehören mir, ich lasse sie nicht mehr fort. Ihre Knochen werden brechen und ihre Haut wird sich vom Fleisch lösen. Maden werden ihre Speisen befallen und Schwäche ihre Glieder. Die Erde wird sie verschlingen, einen nach dem anderen, die Toten werden nachts aus ihren Gräbern steigen und ihre Schreie werden euch alle verzweifeln lassen. Das Land sei verflucht - so lange, bis Gerechtigkeit geübt wird! So wie ich heute als Bastard mein Blut in dieser Gruft vergieße und mein Leben lasse, sollst auch du es eines Tages tun, Ludolf. Und wenn nicht du, dann ein anderer an deiner Stelle, ein wahrer Erbe. Ein legitimer Bruder, geliebt und anerkannt, so wie du, Ludolf. Was mir widerfährt, soll auch ihm widerfahren.‹
Bleich vor Wut schrie Ludolf: ›Du willst, dass meine Männer mich aus Angst vor deinem Fluch töten? Doch er zählt nichts, denn er kommt aus dem Mund eines Hurensohns!‹«
Paul hielt inne. Das Geräusch des fahrenden Zuges war eine ständige Begleitmelodie, doch Bastian hörte sie nur in einem abgelegenen Winkel seines Bewusstseins. Er konnte Doro jetzt besser verstehen, die Bilder vor seinem inneren Auge waren erschreckend real und lebendig. Ein kalter Hauch von Mittelalter wehte durch das Abteil.
»Ohne weiter zu zögern«, fuhr Paul fort, »schlug Ludolf seinem Bruder den Kopf ab. Tristrams Blut strömte auf das Grab seines Vaters und sickerte bis zu dessen Gebeinen. Seitdem wandert der Geist des Fürsten nachts durch die Wälder und findet keine Ruhe.
Ludolf befahl, dass die Gruft zugemauert werden und niemand ein Wort über die Geschehnisse verlieren sollte, doch die Soldaten, die Zeugen des Fluchs geworden waren, verbreiteten die Geschichte dennoch. Wenige Monate später brach in der Burg ein Feuer aus, in dem fast alle Bewohner umkamen. Die Überlebenden sahen darin die Erfüllung des Fluchs, die meisten flohen, einige andere versuchten, Ludolf zu ermorden, doch sie wurden gefasst und hingerichtet. Danach gab es keine Anschläge mehr auf das Leben des jungen Fürsten, doch sein Reichtum versiegte und die verbrannte Burg wurde nicht wieder aufgebaut. Dann kam die Pest. Ludolf fiel ihr schon in der ersten Woche zum Opfer. Nirgendwo im Land wütete sie so heftig wie in seinen Ländereien. Man nannte Ludolfs Reich nur noch das verfluchte Land. Die Menschen, die durch die Gegend reisten, schlugen große Bögen um die verkohlte Ruine. Bald wuchsen Gras und Wald über die verfallenen Steine und heute weiß keiner mehr genau, wo die Burg früher stand. Doch Wanderer berichten von einer dunklen Gestalt, die nachts dort in den Wäldern umherstreift. Andere sagen, sie hätten Schreie gehört, schrill und schmerzvoll, wie die Todesschreie von Tristrams Gefährten.«
Niemand im Abteil rührte sich. Auch Paul saß völlig still da, den Blick auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet.
»Teufel, Teufel, jedes Mal jagst du mir wieder Gänsehaut über den Rücken«, sagte Steinchen schließlich.
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