Saeculum
wanderte Lisbeths Hand zu ihrer Stirn, befühlte die Schwellung. »Wirklich. Glaubst du etwa, dass Georg mir etwas getan hat?«
»Scheißegal, was sie glaubt.« Georg führte Lisbeth ein Stück von den anderen weg, setzte sie auf eine Decke, vorsichtig, als könne sie sonst zerplatzen wie eine Seifenblase. »Wir müssen weg hier. Vier Stunden noch, höchstens, dann beginnt es zu dämmern. Aber sei ruhig, mein Engel. Es wird gut. Alles.«
Georg hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da hörten sie es. Rascheln. Keuchen. Wie aus einem Reflex, ohne klar zu denken, bückte Iris sich und griff nach einem scharfkantigen Stein, groß wie eine Männerfaust. Gleich würde er da sein. Simon. Sie würde ihn sehen. Die Augen mit den schweren Lidern, den schlaffen Mund, die stumpfe, breite Nase. Beim letzten Mal hatte sie einen Schrank zur Verfügung gehabt, diesmal war es ein Stein.
Ein weiteres Geräusch. Wie atemloses Schluchzen. Dann brach etwas aus dem Gebüsch. Klein, blitzschnell, mit heraushängender Zunge. Roderick. Er begrüßte Ralf stürmisch, warf sich zu Boden und rollte auf den Rücken, um sich kraulen zu lassen.
Der Stein fiel ins Gras. Klare Gedanken zu fassen, war mit einem Mal schwieriger als je zuvor. Iris sah Roderick an und war vor allem froh, dass er den Knochen nicht mehr bei sich hatte.
Weil er ihn aufgefressen hat.
Ihr Magen rebellierte plötzlich, aus Ekel oder aus Hunger, das war nicht mehr zu sagen. Schwer atmend ging sie in die Knie, flirrende Punkte tanzten vor ihren Augen.
Von der Seite kam ein schwarzer Schatten in ihr Blickfeld, glitt vorbei, rabenartig. Während das Schluchzen, das aus dem Wald drang, deutlicher wurde und Paul gemeinsam mit Bastian dem Geräusch entgegenlief, sah Doro auf den sich glücklich im Gras wälzenden Hund hinunter.
»Ich wusste es«, sagte sie.
S ie stützten Alma, trugen sie beinahe aus dem Wald heraus. Ihr Atem kam in unregelmäßigen Stößen und es dauerte lang, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie klare Worte herausbrachte.
»Arno«, keuchte sie. »Er ist … gestürzt. Ein Loch, völlig zugewachsen, niemand von uns hat es gesehen, aber es war so tief … mindestens zwei Meter. Unten … lauter Dornen, spitze Steine, Äste. Er hat so geschrien, so schrecklich geschrien.«
Mona nahm sie in die Arme und hielt sie fest. »Wo?«, fragte sie mit rauer Stimme. »Und wo ist Carina?«
»Zu ihm hinuntergestiegen. Oh Gott, wir müssen ihm helfen, bitte, er blutet und er hat solche Schmerzen!«
»Ich gehe«, erklärte Bastian. »Alma, du musst mir den Weg zeigen.« Er nahm sie bei den Schultern, brachte sie dazu, ihn anzusehen. »Wir gehen sofort los, ja? Schaffst du das? Denkst du, dass Arno laufen kann, wenn wir ihn aus dem Loch geholt haben?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Nein. Er ist wirklich verletzt.«
»In Ordnung. Dann werden wir ihn tragen. Georg?«
Iris konnte das Nein in seinem verschlossenen Gesicht lesen, bevor es ihm über die Lippen kam.
»Ich will Lisbeth nicht allein lassen und sie ist nicht in der Verfassung mitzukommen.«
Bastian straffte den Rücken, man sah ihm an, wie viel Beherrschung es ihn kostete, Georg nicht anzubrüllen. »Lisbeth fehlt nichts, oder? Sie hält eine Stunde ohne dich aus, denke ich. Wenn wir Arno tragen müssen, in diesem Gelände, brauchen wir dich.«
»Ich komme natürlich mit«, sagte Paul. »Ralf? Nathan? Wenn ihr auch dabei seid, kann Georg hierbleiben.«
»Ja. Klar.« Ralf sah nicht glücklich aus, seine Blicke huschten immer wieder Hilfe suchend zu Doro, doch die beachtete ihn nicht. Sie drehte einen ihrer Runensteine zwischen den Fingern, ihre Lippen formten lautlose Worte.
Thurisaz in Wasser, am äußersten Rand. Drohendes Unheil, das schon sehr nahe ist, erinnerte sich Iris. Ohne dass sie es wollte, suchte sie den Waldrand nach etwas Verdächtigem ab. Etwas Rotem.
Die Gruppe der Helfer machte sich auf den Weg und Iris sah ihnen nach. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie abgekämpft alle schon waren. Kein sauberes Wams mehr, keine Hose ohne Flecken und Risse. Ralf hatte ihr, bevor er aufgebrochen war, sein Rüstzeug und seinen Waffenrock anvertraut, damit im Fall eines Regengusses nichts davon Schaden nehmen würde. Der Waffenrock stank abartig, nach Dreck und nach Schweiß. Trotzdem hatte sie ihm versprochen, darauf aufzupassen. Sie durften einander jetzt nicht im Stich lassen.
Ein Gedanke, dem Georg sich noch nicht angeschlossen hatte. Auch Bastians Versuch, ihn dazu zu bringen, seine
Weitere Kostenlose Bücher