Saemtliche Dramen
stören möchte – wie auch niemanden in diesem Hause. Aber wir müssen in einer Viertelstunde daheim sein. Sind Sie bereit, Mawriki?
MAWRIKI
Zu Ihren Diensten.
LISA
Sehr schön. Sie sind ein guter Mensch. (Während sie auf die Tür zugeht, zu STEPAN TROFIMOWITSCH ) Geht es Ihnen nicht auch so wie mir? Vor Menschen, die nicht gut sind, graut mir einfach, da können sie so schön und klug sein, wie sie wollen. Das Herz ist das Einzige, was zählt. Apropos, Glückwunsch zu Ihrer Hochzeit.
STEPAN
Sie wissen …
LISA
Gewiss doch, Warwara hat es uns eben erzählt. Welch gute Neuigkeit! Ich bin sicher, dass Dascha nicht damit gerechnet hat. Kommen Sie, Mawriki …
Dunkel
GRIGOREJEW, DER ERZÄHLER
Also ging ich zu Schatow, da Lisa es wünschte und ich bereits das Gefühl hatte, ich könnte ihr nichts ausschlagen, obwohl ich ihren Erklärungen für ihre plötzliche Laune keine Sekunde lang glaubte. Das führte mich – und führt jetzt zugleich auch Sie – in ein weit weniger vornehmes Stadtviertel, zur Frau Filippowa, die an seltsame Existenzen wie Lebjadkin und seine Schwester Marja, an Schatow und vor allem den Ingenieur Kirillow Zimmer vermietete, dazu einen Salon zur gemeinsamen Nutzung, jedenfalls nannte sie diesen Gemeinschaftsraum «Salon».
Drittes Bild
(Im Hause der Filippowa. Das Bühnenbild zeigt einen ärmlichen Salon und rechts ein kleines Zimmer. Es ist Schatows.
Eine Tür links führt vom Salon in Kirillows Zimmer; zwei weitere Türen befinden sich in der Rückwand, die eine öffnet sich in den Eingangsraum, die andere zur Treppe zum ersten Stock.
In der Mitte des Salons steht KIRILLOW , dem Publikum zugewandt, und macht mit äußerst ernster Miene Leibesübungen.)
KIRILLOW
Eins, zwei, drei, vier … Eins, zwei, drei, vier … (Atmet) Eins, zwei, drei, vier …
GRIGOREJEW (tritt ein)
Störe ich? Ich suche Iwan Schatow.
KIRILLOW
Er ist ausgegangen. Sie stören mich nicht, aber ich muss noch eine Übung machen. Sie erlauben. (Er führt die Übung zu Ende aus und zählt leise mit.) Geschafft. Schatow kommt bald zurück. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Ich trinke nachts gern Tee. Vor allem nach meiner Gymnastik. Ich gehe viel hin und her und trinke dabei Tee, bis zum Morgengrauen.
GRIGOREJEW
Sie gehen erst morgens zu Bett?
KIRILLOW
Immer. Seit langem. Nachts denke ich nach.
GRIGOREJEW
Die ganze Nacht?
KIRILLOW (ruhig)
Ja, das muss sein. Wissen Sie, ich denke darüber nach, warum die Menschen es wohl nicht wagen, sich umzubringen.
GRIGOREJEW
Was nicht wagen? Finden Sie nicht, es gibt schon genügend Selbstmorde?
KIRILLOW (zerstreut)
Es müssten eigentlich sehr viel mehr sein.
GRIGOREJEW (ironisch)
Und was, meinen Sie, hindert die Menschen daran, sich umzubringen?
KIRILLOW
Der Schmerz. Wer sich aus Wahnsinn oder Verzweiflung umbringt, denkt nicht an den Schmerz. Aber wer es aus Vernunftgründen tut, der denkt zwangsläufig daran.
GRIGOREJEW
Wie – es soll Menschen geben, die sich aus Vernunftgründen das Leben nehmen?
KIRILLOW
Viele. Ohne den Schmerz und die Vorurteile wären es viel, viel mehr, wahrscheinlich sogar alle Menschen.
GRIGOREJEW
Wie bitte?
KIRILLOW
Aber das Wissen, dass es weh tut, hindert sie daran. Selbst wenn man weiß, dass man keinen Schmerz riskiert, bleibt doch der Gedanke daran. Stellen Sie sich vor, ein Stein fällt auf sie herunter, so groß wie ein Haus. Sie haben keine Zeit, etwas zu merken, Schmerz zu verspüren. Tja, und selbst dann hat man Angst und weicht zurück. Das ist doch interessant.
GRIGOREJEW
Es muss einen anderen Grund geben.
KIRILLOW
Ja … das Jenseits.
GRIGOREJEW
Sie meinen die Sühne.
KIRILLOW
Nein, das Jenseits. Man glaubt, es gebe einen Grund zu leben.
GRIGOREJEW
Dabei gibt es keinen?
KIRILLOW
Nein, es gibt keinen, und daher sind wir frei. Es macht keinen Unterschied, ob man lebt oder stirbt.
GRIGOREJEW
Wie können Sie das nur so gelassen sagen?
KIRILLOW
Ich streite nicht gern und ich lache nie.
GRIGOREJEW
Der Mensch hat Angst vor dem Tod, weil er das Leben liebt, weil das Leben schön ist, das ist es.
KIRILLOW (aufbrausend)
Eine Feigheit ist es, eine Feigheit, nichts weiter! Das Leben ist nicht schön. Und das Jenseits existiert nicht! Gott ist nichts als ein von Todesangst und Schmerz erzeugtes Trugbild. Um frei zu sein, muss man Schmerz und Schrecken besiegen: Man muss sich umbringen. Dann gibt es keinen Gott mehr, und der Mensch ist endlich frei. Dann wird man die Weltgeschichte in
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