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Saemtliche Dramen

Saemtliche Dramen

Titel: Saemtliche Dramen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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lang hörten sie mich wimmern, doch aus Angst vor wilden Tieren wagten sie sich nicht an den wüsten Ort, wo ich lag. Dabei tat keines dieser Tiere mir etwas zuleide. Heute weiß ich: Was sie davon abhielt, was mich behütete – es war das Kreuz.
    Ein Hirte fand mich, wohl auf der Suche nach einem Schaf, das sich in der Bergeinsamkeit verlaufen hatte. Er brachte mich in das Dorf, wo Eusebio lebte, welchen der Himmel ausersehen hatte, seinen Absichten zu dienen, und berichtete ihm von meiner seltsamen Herkunft. Die Himmelsgnade war meine Fürsprecherin in Eusebios mitleidigem Herzen. Er gebot, man möge mich in sein Haus bringen und wie seinen eigenen Sohn aufziehen. Seinetwegen, der mich aufnahm, und wegen des Kreuzes, meines ersten Hüters und Führers, heiße ich Eusebio vom Kreuz.
    Ich fühlte mich zum Waffenhandwerk berufen, und aus Neigung studierte ich die schönen Wissenschaften. Eusebio starb, ich erbte sein Vermögen, und ebenso wundersam wie meine Herkunft war der Stern, unter dem seither mein Leben stand. Mal ist er mir günstig, mal feindlich gesinnt, er prüft mich schwer und behütet mich doch. Bereits in zartester Kindheit, in den Armen meiner Amme, zeigte sich meine wilde, grausame Natur. Ich zerriss mit meinen unbezahnten Kiefern die Brust, von der ich Milch und Honig trank, und vor lauter Schmerz und Wut warf die Amme mich von allen ungesehen in einen Brunnen. Doch hörte man mich lachen und stieg in den Schacht hinab: Ich schwamm auf dem Wasser und hielt meine Händchen in Kreuzesform an meine Lippen gedrückt.
    An einem anderen Tag brach ein Feuer im Hause aus. Die unüberwindlichen Flammen versperrten alle Türen. Dennoch, Lisardo, blieb ich in der Gluthölle unversehrt. Das Feuer mag kein Mitleid kennen, doch später erfuhr ich, dass dies an einem Tag geschah, der gewidmet war – dem Kreuz.
    Mit fünfzehn Jahren fuhr ich übers Meer gen Rom. Ein wütender Sturm trieb unser Schiff auf ein unsichtbares Riff, und unser aufgeschlitztes Fahrzeug wurde von den Wellen zerschlagen. Ich jedoch erreichte glücklich das Ufer, an eine Planke geklammert. Diese Planke, die ich umarmte, Lisardo, hatte die Form des Kreuzes.
    Ein anderes Mal wanderte ich mit einem Freund in diesen Bergen hier. An einem Kreuzweg, wo ein Kruzifix sich erhob, blieb ich stehen, um zu beten, während mein Freund vorausging. Dann eilte ich ihm nach – und fand ihn tot. Mörderhände hatten ihn gemeuchelt, während ich noch betete – vorm Kreuz.
    Bei einer anderen Gelegenheit trat ich zum Duell an. Kaum stand ich bereit, warf mich ein blitzartiger Stoß des Gegners zu Boden. Alle dachten, ich sei tot, doch fand man nur den Abdruck des fürchterlichen Hiebes auf einem Anhänger, den ich um den Hals trug. Statt mich zu töten, hatte die Spitze des Schwerts ihn getroffen: ein Kreuz.
    Eines Tages endlich war ich in den Schluchten des Gebirges auf der Jagd. Jäh zogen schwarze Wolken auf, Donnergrollen kündigte schweres Wetter an, und ein Regen flüssiger Lanzen und eisiger Geschosse ging auf die Erde nieder. Meine Jagdgenossen suchten unter den dichtesten Laubdächern Schutz. Da schoss ein Blitz heran wie ein vom schwarzen Wind getragener Komet und verwandelte die beiden Männer, die mir zunächst standen, in Asche. Erst geblendet und von Sinnen blickte ich dann verstört auf die Umgebung und entdeckte dicht bei mir ein Kreuz, dasselbe Kreuz, das über meine Geburt gewacht hatte und dessen Bild ich auf der Brust trage (zeigt es ihm) . Ja, Lisardo, der Himmel hat mich mit diesem Kreuz gebrandmarkt als sichtbares Zeichen seines unerforschlichen Plans. Ich kann zwar nicht sagen, wessen Sohn ich bin, doch spüre ich ein solches Feuer in mir und einen solchen Mut, einen solch hohen Sinn, der mich verwandelt, dass ich meine, ich bin edel genug, um Julia zu verdienen. Ererbter Adel kann nicht höher stehen als erworbener.
    Jetzt siehst du, wer ich bin. Ich weiß, ohne dass du es mir sagst, was Vernunft ist und was Wahnsinn. Wenn ich wollte, könnte ich sogar die Kränkung wiedergutmachen, die ich dir zugefügt habe. Mein Zorn angesichts deiner Worte verbietet mir jedoch, mich auch nur zu entschuldigen oder gar anzuerkennen, dass du recht hättest. Da du dich meiner Verbindung mit Julia entgegenstellst, wird es kein Haus geben, das sie beschützen, noch Kloster, das sie verbergen kann. Nirgends wird sie vor meinen Nachstellungen sicher sein. Magst du sie mir nicht als Frau geben, wird sie als meine Mätresse gut genug sein. So strafen

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