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Saemtliche Dramen

Saemtliche Dramen

Titel: Saemtliche Dramen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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erkennen, dann hat sie ihre Rolle hier auf Erden ausgespielt.
    MARTHA
    Nein, nicht wenn sie noch für das Glück ihrer Tochter sorgen muss. Ich verstehe nicht, was Sie da sagen. Ihre Worte sind so fremd. Sie haben mir doch beigebracht, nichts zu respektieren?
    DIE MUTTER (immer noch ebenso gleichgültig)
    Ja, aber ich habe jetzt gelernt, dass das falsch war und dass wir auf dieser Erde, auf der nichts sicher ist, doch unsere Gewissheiten haben. (Verbittert) Die Liebe einer Mutter für ihren Sohn ist heute meine Gewissheit.
    MARTHA
    Sind Sie also nicht mehr sicher, dass eine Mutter ihre Tochter lieben kann?
    DIE MUTTER
    Ich möchte dich nicht kränken, Martha, aber das ist tatsächlich nicht dasselbe. Es ist weniger stark. Wie soll ich ohne die Liebe meines Sohnes leben?
    MARTHA (platzt heraus)
    Eine schöne Liebe, die Sie zwanzig Jahre lang vergisst!
    DIE MUTTER
    Ja, eine schöne Liebe, die zwanzig Jahre Schweigen übersteht. Aber egal. Für mich ist diese Liebe schön genug, denn ich kann ohne sie nicht weiterleben.
    (Sie steht auf.)
    MARTHA
    Das können Sie nicht so ungerührt sagen und ohne jeden Gedanken an Ihre Tochter!
    DIE MUTTER
    Ich habe für nichts mehr Gedanken und schon gar keine Rührung. Das ist die Strafe, Martha, ich nehme an, es gibt eine Stunde, in der es jedem Mörder geht wie mir jetzt, innerlich leer, gefühllos, ohne jede Zukunft. Deswegen beseitigt man die Mörder, sie taugen nichts mehr.
    MARTHA
    Diese Sprache verachte ich, ich ertrage es nicht, dass Sie von Verbrechen und von Strafe reden!
    DIE MUTTER
    Ich sage, was mir auf die Zunge kommt, mehr nicht. Ach! Ich habe die Freiheit verloren, jetzt beginnt die Hölle!
    MARTHA (geht zu ihr hin, heftig)
    So haben Sie früher nicht geredet. All diese Jahre sind Sie bei mir geblieben und haben mit fester Hand die Beine derer gepackt, die sterben sollten. Da haben Sie nicht an Freiheit und Hölle gedacht. Sie haben weitergemacht. Was soll Ihr Sohn daran ändern?
    DIE MUTTER
    Ja, ich habe weitergemacht. Aber aus Gewohnheit, wie eine Tote. Jetzt hat der Schmerz alles verwandelt. Das ändert mein Sohn daran.
    ( MARTHA macht eine Bewegung, sie will sprechen.)
    Ich weiß, Martha, das ist unvernünftig. Was bedeutet schon Schmerz für eine Verbrecherin? Aber wie du siehst, ist es auch kein wahrer Mutterschmerz: Ich habe noch nicht geschrien. Bislang spüre ich nur das Leiden, mit dem ich neu zur Liebe geboren werde, und doch ist es größer als ich. Ich weiß, auch dieses Leiden ist sinnlos. (Mit verändertem Ton) Aber die ganze Welt ist sinnlos, ich darf das sagen, ich habe alles erlebt, von der Schöpfung bis zur Vernichtung.
    (Geht entschlossen zur Haustür, aber MARTHA stellt sich ihr in den Weg.)
    MARTHA
    Nein, Mutter, Sie verlassen mich nicht. Vergessen Sie nicht, ich bin geblieben, er ist fortgegangen. Ich habe Ihnen ein Leben lang zur Seite gestanden, er hat nur Schweigen für Sie gehabt. Dafür muss man zahlen. Das gehört auf die Rechnung. Und Sie müssen zu mir zurückkommen.
    DIE MUTTER (sanft)
    Das stimmt, Martha, aber ihn habe ich getötet!
    ( MARTHA hat sich halb abgewandt, den Kopf nach hinten gedreht, als betrachtete sie die Tür.)
    MARTHA (nach einer Pause, mit wachsender Leidenschaft)
    Alles, was das Leben einem Mann geben kann, hat er gekriegt. Er hat unser Land verlassen. Er hat andere Gegenden gesehen, das Meer, freie Wesen. Ich habe hier ausgeharrt. Ich bin geblieben, klein und dunkel, in der Ödnis, tief im Herzen des Kontinents, bin auf dieser schlammigen Erde groß geworden. Niemand hat je meinen Mund geküsst, nicht einmal Sie haben mich je nackt gesehen. Mutter, ich schwöre Ihnen, dafür muss man zahlen. Sie können sich nicht einfach entziehen, unter dem bloßen Vorwand, dass ein Mann tot ist, ausgerechnet jetzt, wo ich endlich bekommen soll, was mir zusteht. Begreifen Sie doch, für einen Mann, der sein Leben gelebt hat, ist der Tod eine Kleinigkeit. Ihren Sohn, meinen Bruder können wir vergessen. Was mit ihm passiert ist, hat keine Bedeutung: Er hatte nichts mehr zu erwarten. Aber mir wollen Sie alles vorenthalten und mir nehmen, woran er sich gefreut hat? Soll er mir sogar die Liebe meiner Mutter wegnehmen, Sie in seinen kalten Fluss mitreißen?
    (Sie sehen sich schweigend an. MARTHA schlägt die Augen nieder.)
    Ich verlange doch so wenig. Mutter, es gibt Worte, die ich nie zu sagen gewagt habe, aber könnte es nicht schön sein weiterzuleben?
    DIE MUTTER (tritt näher zu ihr)
    Hast du ihn wiedererkannt?
    MARTHA (hebt jäh

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