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Saemtliche Dramen

Saemtliche Dramen

Titel: Saemtliche Dramen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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den Kopf)
    Nein! Ich hatte ihn nicht wiedererkannt. Ich hatte kein Bild von ihm in der Erinnerung, es kam, wie es kommen musste. Sie haben es selber gesagt, die Welt ist sinnlos. Aber Sie fragen mich das nicht ganz zu Unrecht. Denn jetzt weiß ich, selbst wenn ich ihn erkannt hätte, es hätte nichts geändert.
    DIE MUTTER
    Ich möchte lieber glauben, dass das nicht stimmt. Selbst der schlimmste Mörder weiß, wann er zu verzichten hat.
    MARTHA
    Ich weiß das auch. Aber ich hätte vor einem unbekannten, gleichgültigen Bruder den Kopf nicht gesenkt.
    DIE MUTTER
    Vor wem denn?
    MARTHA (senkt den Kopf)
    Vor Ihnen.
    (Pause.)
    DIE MUTTER (langsam)
    Zu spät, Martha. Ich kann dir nicht mehr helfen. (Sie wendet sich ihr zu.) Weinst du, Martha? Nein, das könntest du nicht. Weißt du noch, damals, als ich dich umarmte?
    MARTHA
    Nein, Mutter.
    DIE MUTTER
    Du hast recht. Es ist lange her, und ich vergaß bald, dich in den Arm zu nehmen. Aber ich habe nicht aufgehört, dich zu lieben. (Sie schiebt MARTHA sacht beiseite, die ihr den Weg nach und nach frei macht.) Das weiß ich jetzt, weil mein Herz spricht. Ich lebe wieder, in dem Augenblick, da ich nicht ertragen kann weiterzuleben.
    (Der Weg ist jetzt frei.)
    MARTHA (verbirgt ihr Gesicht in den Händen)
    Was könnte denn stärker sein als die Verzweiflung Ihrer Tochter?
    DIE MUTTER
    Die Müdigkeit vielleicht, und die Sehnsucht nach Ruhe.
    (Sie geht hinaus, ohne dass ihre Tochter sie daran hindert.)
    Szene  2
    ( MARTHA läuft zur Tür, wirft sie brutal zu, presst sich dagegen. Sie bricht in wilde Schreie aus.)
    MARTHA
    Nein! Ich war nicht als meines Bruders Hüterin bestimmt, trotzdem bin ich jetzt fremd in meinem eigenen Land; meine Mutter hat mich verstoßen. Aber ich war nicht als meines Bruders Hüterin bestimmt. Was geschehen ist, ist nichts als das Unrecht, das der Unschuld zustößt. Er hat jetzt bekommen, was er wollte, und ich bleibe einsam zurück, fern vom Meer, nach dem ich mich so gesehnt habe! Ich hasse ihn! Mein Leben lang habe ich auf die Welle gewartet, die mich forttragen soll, und jetzt weiß ich, sie wird nie kommen! Ich muss weiterleben, ringsum von Volksmengen und Nationen eingezwängt, von Ebenen und Gebirgen, die den Wind des Meeres von mir fernhalten und mit ihrem Geschwätz und Gemurmel seinen Ruf übertönen. (Leiser) Andere haben mehr Glück! Es gibt Orte, die zwar fern vom Meer liegen, wohin aber der Abendwind manchmal den Duft von Tang trägt. Er erzählt von feuchten Stränden, über denen Möwenschreie hallen, von goldenen Küsten an grenzenlosen Abenden. Doch lange bevor er hierher gelangt, ermattet der Wind; ich werde nie bekommen, was mir zusteht. So fest ich auch das Ohr auf den Boden presse, nie werde ich die Wucht der eisigen Wellen hören oder das gleichmäßige Atmen des glücklichen Meers. Ich bin zu fern von dem, was ich liebe, die Entfernung ist unüberbrückbar. Ich hasse ihn, ich hasse ihn, weil er bekommen hat, was er wollte! Meine einzige Heimat ist dieser verriegelte, finstere Ort, dieser Himmel ohne Horizont, nichts habe ich für meinen Hunger als die sauren Pflaumen dieses Landes, nichts für meinen Durst als das Blut, das ich vergossen habe. Das ist der Preis, den man zahlen muss für die Zuneigung einer Mutter!
    Soll sie doch sterben, wenn ich nicht geliebt werde! Sollen alle Türen um mich herum zufallen! Soll sie mich meinem gerechten Zorn überlassen! Denn bevor ich sterbe, werde ich nicht zum Himmel blicken, um ihn anzuflehen. Fern dort, wo man Zuflucht findet, wo man seinen Körper an einen anderen schmiegen, sich in den Wellen wiegen kann, jenes vom Meer geschützte Land erreichen die Götter nicht. Hier in diesem Land jedoch, das den Blick ringsum verstellt, muss das Gesicht sich nach oben wenden, und die Augen müssen flehen. Oh! Ich hasse diese Welt, in der wir auf Gott angewiesen sind. Ich, die ich Unrecht leiden muss, der keine Gerechtigkeit wird, ich werde nicht niederknien. Meinen Platz auf Erden habe ich verloren, bin von meiner Mutter verstoßen, allein mit meinen Verbrechen werde ich diese Welt verlassen, unversöhnt.
    (Es klopft an der Tür.)
    Szene  3
    MARTHA
    Wer ist da?
    MARIA
    Eine Reisende.
    MARTHA
    Wir nehmen keine Gäste mehr auf.
    MARIA
    Ich komme zu meinem Mann.
    (Sie tritt ein.)
    MARTHA (schaut sie an)
    Wer ist Ihr Mann?
    MARIA
    Er ist gestern hier eingetroffen und wollte heute Morgen wieder zu mir kommen. Ich wundere mich, wo er bleibt.
    MARTHA
    Er sagte, seine Frau sei im Ausland.
    MARIA
    Dafür

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