Saemtliche Dramen
lassen Sie mich allein!
MARTHA
Ich werde Sie allein lassen, keine Sorge, das wird auch für mich eine Erleichterung sein, Ihre Liebe und Ihre Tränen sind mir widerlich. Aber ich kann nicht sterben und Sie in dem Irrtum lassen, dass Sie recht hatten mit Ihrer Ansicht, die Liebe sei nicht vergebens und das hier ein Unfall gewesen. Jetzt erst hat alles seine Ordnung. Das muss ich Ihnen begreiflich machen.
MARIA
Was für eine Ordnung?
MARTHA
Die, in der niemand je erkannt wird.
MARIA (verstört)
Ich begreife kaum, was Sie da sagen, aber es ist mir auch gleichgültig. Mein Herz ist gebrochen, es schlägt nur noch für den, den Sie getötet haben.
MARTHA (heftig)
Halten Sie den Mund! Ich will nichts mehr von ihm hören, ich verabscheue ihn! Er ist für Sie verloren, denn er ist jetzt in das bittere Haus der ewigen Verbannung gezogen. Der Dummkopf! Jetzt hat er, was er wollte, er ist bei der, die er gesucht hat. Jetzt hat alles seine Ordnung. Sie müssen eins verstehen: Weder für ihn noch für uns, weder im Leben noch im Tod gibt es Heimat oder Frieden. (Lacht verächtlich) Diese schlammige, lichtlose Erde, in der wir am Ende der Fraß von blinden Tieren werden, die kann man doch nicht Heimat nennen!
MARIA (tränenüberströmt)
Oh mein Gott, ich ertrage das nicht, ich ertrage nicht, wie Sie reden. Er hätte es auch nicht ertragen. Er war zu einer anderen Heimat aufgebrochen.
MARTHA (ist jetzt an der Tür, dreht sich jäh um)
Für diese Dummheit hat er bezahlt. Und Sie werden auch bald bezahlen. (Lacht wieder verächtlich) Wir sind bestohlen worden, ich sage es Ihnen. Was soll dieses große Verlangen des Daseins, dieser Aufschrei der Seelen? Warum sich nach dem Meer, nach der Liebe sehnen? Lächerlich ist das. Ihr Mann kennt jetzt die Antwort, an jenem grausigen Ort, wohin wir am Ende alle verbannt sind. (Hasserfüllt) Auch Sie werden es kennenlernen, und wenn Sie es dann noch können, werden Sie mit Wonne an den heutigen Tag zurückdenken, auch wenn Sie ihn jetzt als herzzerreißenden Abschied empfinden. Merken Sie sich: Ihr Schmerz wird nie an das Unrecht reichen, das dem Menschen angetan wird. Und jetzt hören Sie noch meinen Rat. Ich schulde Ihnen einen Rat, nicht wahr, schließlich habe ich Ihren Mann umgebracht!
Beten Sie zu Ihrem Gott, dass er Sie sein lässt wie Stein. Das ist das einzig wahre Glück, er behält es sich selber vor. Tun Sie es wie er, seien Sie taub für alle Schreie, werden Sie dem Stein gleich, solange noch Zeit ist. Wenn Sie aber zu feige sind, um in diesen stummen Frieden einzutreten, dann kommen Sie zu uns in unser gemeinsames Haus. Leben Sie wohl, meine Schwester! Alles ist ganz einfach, wie Sie sehen. Wählen Sie zwischen dem stumpfen Glück der Steine und dem fauligen Bett, in dem wir auf Sie warten.
( MARTHA geht ab; MARIA , die verwirrt zugehört hat, schwankt mit vorgestreckten Händen.)
MARIA (in einem Aufschrei)
Oh mein Gott! Ich kann in dieser Wüste nicht leben! Ich rufe zu Dir und werde meine Worte finden. (Fällt auf die Knie) In Deine Hände empfehle ich mich. Habe Mitleid mit mir, wende Dich mir zu. Reiche mir Deine helfende Hand! Hab Mitleid, Herr, mit denen, die sich lieben und die auseinandergerissen werden!
(Die Tür geht auf, der ALTE KNECHT erscheint.)
Szene 4
DER ALTE (mit klarer, fester Stimme)
Sie haben mich gerufen?
MARIA (dreht sich zu ihm um)
Oh! Ich weiß nicht! Aber helfen Sie mir, ich brauche Hilfe. Haben Sie Mitleid, helfen Sie mir bitte!
DER ALTE (mit derselben Stimme)
Nein!
Vorhang
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Der Belagerungszustand
Schauspiel in drei Teilen
Vorbemerkung
Im Jahre 1941 plante Jean-Louis Barrault eine Theaterproduktion zum mythischen Thema der Pest, das auch Antonin Artaud fasziniert hatte. In den nachfolgenden Jahren schien ihm zu diesem Zweck eine Adaptation von Daniel Defoes großem Buch
Tagebuch des Pestjahres
am geeignetsten. Er fertigte den Entwurf einer Bühnenfassung an.
Als er erfuhr, dass ich demnächst einen Roman über dieses Thema veröffentlichen würde, schlug er mir vor, ich solle die Dialoge zu seinem Entwurf verfassen. Meine Vorstellungen gingen jedoch in eine andere Richtung, vor allem wollte ich lieber auf Barraults ursprünglichen Plan zurückkommen und Daniel Defoe verwerfen.
Kurz gesagt, es ging darum, einen Mythos zu erdenken, der allen Zuschauern von 1948 etwas zu sagen hatte. Dieser Absicht entspringt
Der Belagerungszustand
, und ich bin eitel genug zu glauben, dass dieser Versuch Interesse
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