Saemtliche Dramen
Bergbewohner sich Zeichen geben. Es ruft auch dich … Schau, es ist der Johannisabend!
DIEGO
Inmitten der Massengräber!
VICTORIA
Massengräber, Wiesen, was ändert das an meiner Liebe? Sie schadet wenigstens niemandem, sie ist selbstlos! Aber dein Wahn, deine sinnlose Aufopferung, wem helfen die? Jedenfalls nicht mir, jedes Wort von dir ist wie ein Messerstich!
DIEGO
Weine nicht, du Tapfere! Es ist zum Verzweifeln! Warum ist das alles über uns gekommen? Ich hätte deine bitteren Tränen getrunken und den Mund geküsst, den sie verätzen, ich hätte dein Gesicht mit so vielen Küssen bedeckt, wie ein Olivenbaum Blätter hat!
VICTORIA
Ah! Jetzt erkenne ich dich wieder! Das ist unsere Sprache, die du verlernt hattest! (Will ihm die Hände reichen.) Ich will dich wiedererkennen …
( DIEGO weicht zurück, deutet auf die Pestmale. Sie streckt die Hand weiter aus, zögert.)
DIEGO
Siehst du, du hast auch Angst …
( VICTORIA drückt die Hand auf seine Male. Er tritt verstört zurück. Sie streckt die Arme aus.)
VICTORIA
Komm schnell! Hab keine Angst mehr!
(Aber das Stöhnen und die Flüche werden immer lauter. Er blickt sich nach allen Seiten um wie ein Irrer und flieht.)
VICTORIA
Ah! Einsamkeit!
CHOR DER FRAUEN
Wir sind Wächterinnen! Diese Ereignisse sind zu groß für uns, wir warten darauf, dass sie zu Ende gehen. Wir werden unser Geheimnis bis zum Winter hüten, bis zur Stunde der Freiheit, wenn die Schreie der Männer verstummt sind und sie zu uns zurückkommen, um sich das zu holen, ohne das sie nicht leben können: die Erinnerung an die freien Meere, den leeren Sommerhimmel, den ewigen Duft der Liebe. Und wir warten wie welkes Septemberlaub. Es hält einen Augenblick inne, dann drückt das Gewicht des Wassers auf ihnen sie hinunter. Jetzt liegen wir auch am Boden. Mit gebeugtem Rücken warten wir, dass die Schreie all der Kämpfe verhallen, wir hören, wie tief in uns sanft das glückliche Meer brandet. Wenn die nackten Mandelbäume voller Reifblüten stehen, dann, ja dann werden wir uns ein wenig aufrichten, empfänglich für den ersten Hauch der Hoffnung, und im neuen Frühling erheben wir uns ganz. Und dann kommen diejenigen, die uns lieben, auf uns zu, und je näher sie kommen, desto mehr werden wir wie die salz- und wasserschweren Boote, reich an Düften, die das steigende Wasser nach und nach aufhebt, bis sie endlich auf dem glatten Wasser schwimmen. Ah! Wind soll kommen, Wind soll kommen …
(Dunkel.)
(Licht auf dem Quai. DIEGO kommt und ruft jemandem zu, den er entfernt am Meer sieht. Im Hintergrund der CHOR der Männer.)
DIEGO
He! Hallo!
EINE STIMME
He! Hallo!
(Ein SCHIFFER taucht auf, nur sein Kopf schaut über den Rand des Quais.)
DIEGO
Was machst du?
DER SCHIFFER
Ich bringe Nachschub.
DIEGO
In die Stadt?
DER SCHIFFER
Nein, die Stadt wird im Prinzip von der Verwaltung versorgt. Auf Lebensmittelkarten natürlich. Ich bringe Brot und Milch. Weit draußen ankern Boote, einige Familien haben dort Zuflucht vor der Krankheit gesucht. Ich bringe ihre Briefe und nehme Vorräte mit zurück.
DIEGO
Aber das ist verboten.
DER SCHIFFER
Die Verwaltung verbietet es. Aber ich kann nicht lesen und war auf See, als die Ausrufer das neue Gesetz verkündeten.
DIEGO
Nimm mich mit.
DER SCHIFFER
Wohin?
DIEGO
Aufs Meer. Zu den Booten.
DER SCHIFFER
Das ist aber verboten.
DIEGO
Du hast von dem Gesetz weder gelesen noch gehört.
DER SCHIFFER
Das verbietet nicht die Verwaltung, sondern die Menschen auf den Booten. Sie sind nicht sicher.
DIEGO
Wie, nicht sicher?
DER SCHIFFER
Na ja, Sie könnten es einschleppen.
DIEGO
Was einschleppen?
DER SCHIFFER
Psst! (Er blickt sich um.) Die Keime, was sonst! Sie könnten die Keime einschleppen.
DIEGO
Ich zahle, was es kostet.
DER SCHIFFER
Bitte bedrängen Sie mich nicht. Ich bin schwach.
DIEGO
Ich zahle alles, was es kostet.
DER SCHIFFER
Auf Ihre Verantwortung?
DIEGO
Ja.
DER SCHIFFER
Steigen Sie ein. Das Meer ist ruhig.
( DIEGO will hineinspringen, aber hinter ihm taucht die SEKRETÄRIN auf.)
DIE SEKRETÄRIN
Nein! Sie fahren nicht!
DIEGO
Wie?
DIE SEKRETÄRIN
Das ist nicht vorgesehen. Außerdem kenne ich Sie, Sie nehmen nicht Reißaus.
DIEGO
Mich kann nichts hindern.
DIE SEKRETÄRIN
Es genügt, dass ich es will. Und ich will es, denn ich habe etwas mit Ihnen vor. Sie wissen, wer ich bin!
(Sie weicht ein wenig zurück, wie um ihn mitzuziehen. Er folgt ihr.)
DIEGO
Sterben macht mir nichts. Aber schmutzig
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