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Saemtliche Dramen

Saemtliche Dramen

Titel: Saemtliche Dramen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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die ihr könnt! Warum schreckt ihr zurück? Erhebt den Kopf, es ist die Stunde des Stolzes! Werft eure Knebel weg und ruft mit mir, dass ihr keine Angst mehr habt. (Er hebt den Arm.) O heilige Revolte, lebendiger Aufruhr, Ehre des Volks, gib diesen Geknebelten die Kraft deines Schreis!
    DER CHOR
    Bruder, wir hören dich, und wir, die Elenden, die von Oliven und Brot leben, für die ein Maultier ein Vermögen darstellt, wir, die zwei Mal im Jahr Wein bekommen, am Geburtstag und am Hochzeitstag, wir beginnen zu hoffen! Aber die alte Angst sitzt noch in den Herzen. Oliven und Brot geben dem Leben Geschmack! So wenig wir auch haben, wir fürchten, alles mit dem Leben zu verlieren!
    DIEGO
    Wenn ihr die Dinge so weiterlaufen lasst, verliert ihr alles, Oliven, Brot und Leben! Heute müsst ihr die Angst besiegen, wenn ihr auch nur das Brot behalten wollt. Wach auf, Spanien!
    DER CHOR
    Wir sind arm und unwissend. Aber man hat uns erzählt, die Pest folge den Jahreszeiten. Sie hat ihren Frühling, wo sie keimt und sprießt, sie hat ihren Sommer, wo sie Frucht trägt. Wenn der Winter kommt, stirbt sie vielleicht. Aber ist das der Winter, Bruder, ist das wirklich der Winter? Kommt dieser Wind wirklich vom Meer? Wir haben immer alles mit der Münze des Elends entgolten. Müssen wir jetzt mit unserem Blut bezahlen?
    CHOR DER FRAUEN
    Wieder mal eine Männersache! Wir sind hier, um euch an den Augenblick der Hingabe zu erinnern, an die Nelke der Tage, die schwarze Wolle der Schafe, kurz, an den Duft Spaniens! Wir sind schwach, wir können nichts ausrichten gegen euch mit euren schweren Knochen. Aber was ihr auch tut, vergesst nicht unser blühendes Fleisch im Durcheinander eurer Schatten!
    DIEGO
    Die Pest ist es, die uns zerfleischt, sie trennt die Liebenden und zerdrückt die Blüte der Tage! Der Kampf geht vor allem gegen sie.
    DER CHOR
    Ist wirklich Winter? In unseren Wäldern hängen die Eichen immer noch voll kleiner wachsglänzender Eicheln, und ihre Stämme wimmeln von Wespen! Nein! Das ist noch nicht der Winter!
    DIEGO
    Dann beginnt den Winter des Zorns!
    DER CHOR
    Aber finden wir am Ende des Wegs auch Hoffnung? Oder müssen wir hoffnungslos sterben?
    DIEGO
    Wer redet von Hoffnungslosigkeit? Hoffnungslosigkeit ist ein Knebel. Aber der Donner der Hoffnung, der Blitzschlag des Glücks sprengen das Schweigen dieser belagerten Stadt. Steht auf, sag ich! Wenn ihr Brot und Hoffnung behalten wollt, dann zerreißt eure Bescheinigungen, zerschlagt die Fensterscheiben der Büros, verlasst die Warteschlangen der Angst, ruft die Freiheit in alle Himmelsrichtungen!
    DER CHOR
    Wir sind so elend! Die Hoffnung ist unser einziger Reichtum, wir können sie nicht entbehren. Bruder, wir werfen alle Knebel weg! (Lauter befreiter Aufschrei.) Ah! Der erste Regen fällt auf die trockene Erde, auf die dürren Risse! Der Herbst ist da, in dem alles neu ergrünt, und mit ihm der kühle Meerwind. Die Hoffnung hebt uns hoch wie eine Welle.
    ( DIEGO geht beiseite.)
     
    (Die PEST tritt auf, auf gleicher Höhe wie DIEGO , aber von der anderen Bühnenseite. Die SEKRETÄRIN und NADA folgen ihr.)
    DIE SEKRETÄRIN
    Was ist hier los? Was ist das für ein Gerede? Werdet ihr wohl die Knebel wieder einsetzen!
    (Ein paar Leute in der Mitte setzen die Knebel wieder ein. Andere Männer haben sich zu DIEGO gesellt und arbeiten in aller Ruhe weiter.)
    DIE PEST
    Sie werden aufsässig.
    DIE SEKRETÄRIN
    Ja, wie üblich.
    DIE PEST
    Schön. Dann müssen wir die Schrauben anziehen!
    DIE SEKRETÄRIN
    Gut. (Sie schlägt ihr Notizbuch auf und blättert etwas überdrüssig.)
    NADA
    Und auf geht’s! Wir sind auf dem rechten Weg! Sich vorschriftsmäßig verhalten oder nicht vorschriftsmäßig, das ist die ganze Moral, die ganze Philosophie! Aber wenn Sie mich fragen, Euer Gnaden, dann gehen wir nicht weit genug.
    DIE PEST
    Du redest zu viel.
    NADA
    Weil ich begeistert bin. Und ich habe viel von Ihnen gelernt. Unterdrückung, das ist mein Evangelium. Aber bis jetzt hatten wir keine ordentliche Handhabe dafür. Jetzt habe ich die vorschriftsmäßigen Gründe!
    DIE PEST
    Mit den Vorschriften lässt sich nicht alles unterdrücken. Du bist nicht linientreu, pass auf!
    NADA
    Vergessen Sie nicht, es gab auch vor Ihnen schon Vorschriften. Nur die Generalvorschrift war noch zu erfinden, die sämtliche offenen Rechnungen erledigt, die die menschliche Gattung auf den Index bringt, das Leben als solches durch ein Verzeichnis ersetzt, das Universum verfügbar macht, Himmel und Erde endlich

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