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Saemtliche Dramen

Saemtliche Dramen

Titel: Saemtliche Dramen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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sterben …
    DIE SEKRETÄRIN
    Ich verstehe. Sehen Sie, ich bin nur ein ausführendes Organ. Allerdings wurden mir Rechte an Ihnen übertragen. Ein Vetorecht, wenn Sie so wollen. (Sie blättert in ihrem Notizbuch.)
    DIEGO
    Männer wie ich gehören nur der Erde!
    DIE SEKRETÄRIN
    Genau das wollte ich sagen. Sie gehören gewissermaßen mir! Nur gewissermaßen. Vielleicht nicht so, wie ich es gern hätte … wenn ich Sie so ansehe. Schlicht. Sie gefallen mir, wissen Sie. Aber ich habe meine Befehle. (Sie spielt mit ihrem Notizbuch.)
    DIEGO
    Mir ist Ihr Hass lieber als Ihr Lächeln. Ich verachte Sie.
    DIE SEKRETÄRIN
    Wie Sie wollen. Dieses Gespräch entspricht sowieso nicht den Vorschriften. Die Müdigkeit macht mich sentimental. Nach all der Buchhalterei habe ich mich abends nicht mehr ganz unter Kontrolle. (Sie dreht das Notizbuch zwischen den Fingern. DIEGO versucht, es ihr wegzunehmen.) Wirklich, Schätzchen, lassen Sie das. Es würde Ihnen sowieso nichts nützen. Das ist ein Notizbuch, halb Terminkalender, halb Aktenordner, für allen Papierkram. Und ein Abreißkalender dazu. (Lacht) Meine Gedächtnisstütze eben! (Sie streckt die Hand nach ihm aus wie für ein Streicheln. DIEGO springt zum SCHIFFER zurück.)
    DIEGO
    Ah! Er ist weg!
    DIE SEKRETÄRIN
    Stimmt! Noch einer, der sich für frei hält, dabei steht er auf der Liste wie alle anderen.
    DIEGO
    Sie reden so heimtückisch, dabei wissen Sie, dass Männer genau das nicht ertragen. Lassen Sie das doch.
    DIE SEKRETÄRIN
    Aber das ist alles ganz einfach, und ich sage die Wahrheit. Jede Stadt hat ihre Akte, das hier ist die von Cádiz. Ich versichere Ihnen, es ist alles hervorragend organisiert, niemand wird vergessen.
    DIEGO
    Niemand wird vergessen, aber alle entkommen Ihnen.
    DIE SEKRETÄRIN (beleidigt)
    Aber nein, wo denken Sie hin! (Überlegt) Es gibt schon Ausnahmen. Selten einmal vergessen wir einen. Aber am Ende verraten sie sich doch. Wenn sie hundert Jahre alt werden, brüsten sie sich, die Dummköpfe, und stehen in der Zeitung. Wir brauchen nur zu warten. Wenn ich morgens die Presse durchgehe, notiere ich die Namen, kollationiere sie, wie wir es nennen. Sie entgehen uns nicht, gar keine Frage.
    DIEGO
    Aber hundert Jahre lang haben sie sich euch verweigert, so wie diese ganze Stadt!
    DIE SEKRETÄRIN
    Hundert Jahre sind nichts! Euch beeindruckt das, weil ihr die Dinge aus allzu großer Nähe seht. Aber ich habe das große Ganze im Auge, verstehen Sie. In einer Akte über dreihundertundzweiundsiebzigtausend Namen, was ist da schon ein Einzelner, selbst wenn er hundert Jahre alt wird! Außerdem gleichen wir das mit den unter Zwanzigjährigen wieder aus, im Durchschnitt. Wir streichen ein bisschen schneller, fertig! So … (Sie streicht einen Namen im Notizbuch aus. Ein Schrei auf See, jemand plumpst ins Wasser.) Oh! Das war gedankenlos. Und sieh mal an, das war der Bootskapitän, so ein Zufall.
    ( DIEGO sieht sie angewidert und ängstlich an.)
    DIEGO
    Sie sind so ekelhaft, mir wird schlecht!
    DIE SEKRETÄRIN
    Ich weiß, ich habe einen undankbaren Beruf. Er ist anstrengend und verlangt viel Sorgfalt. Anfangs war ich noch unsicher, aber jetzt habe ich eine feste Hand. (Sie tritt auf DIEGO zu.)
    DIEGO
    Bleiben Sie weg.
    DIE SEKRETÄRIN
    Bald gibt es gar keine Irrtümer mehr. Ein Geheimnis. Eine perfekte Maschine. Sie werden sehen.
    (Sie ist bei jedem Satz näher zu ihm gegangen, bis sie ihn berührt. Plötzlich packt er sie wutentbrannt am Kragen.)
    DIEGO
    Machen Sie endlich Schluss mit diesem widerlichen Theater! Was warten Sie noch? Machen Sie Ihre Arbeit und spielen Sie nicht mehr mit mir, ich bin größer als Sie! Bringen Sie mich um, ich schwöre Ihnen, das ist die einzige Möglichkeit, dieses schöne System zu retten, das nichts dem Zufall überlässt. Ah! Sie haben nur das große Ganze im Auge! Hunderttausend Menschen, das wird interessant. Das ist eine Statistik, und Statistiken sind stumm! Kurven und Graphiken, was! Immer im Generationenmaßstab, das ist leichter! Eine Arbeit ganz im Stillen, beim Geruch der Tinte. Aber ich warne Sie, ein einzelner Mensch ist gefährlicher, der schreit seine Freude oder seine Todesangst hinaus. Und solange ich lebe, werde ich eure schöne Ordnung mit Zufällen und Schreien stören. Ich lehne euch ab, mit meinem ganzen Dasein!
    DIE SEKRETÄRIN
    Ach Schätzchen!
    DIEGO
    Halten Sie den Mund! Menschen wie ich halten den Tod ebenso in Ehren wie das Leben. Aber jetzt sind Ihre Oberen gekommen, und Tod wie Leben sind

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