Sämtliche Werke
Seelenzustande, nämlich am ersten Festtage der jüngsten Revolutionsfeier, als er durch die Straßen von Paris einherritt, in der Mitte der jubelnden Bürgergarde und der Juliusdekorierten, die alle wie wahnsinnig die Parisienne und die Marseiller Hymne brüllten, auch mitunter die Carmagnole tanzten: Se. Majestät der König saß hoch zu Roß, halb wie ein gezwungener Triumphator, halb wie ein freiwilliger Gefangener, der einen Triumphzug zieren soll; ein entthronter Kaiser ritt symbolisch oder auch prophetisch an seiner Seite; seine beiden jungen Söhne ritten ebenfalls neben ihm, wie blühende Hoffnungen, und seine schwülstigen Wangen glühten hervor aus dem Walddunkel des großen Backenbarts, und seine süßlich grüßenden Augen glänzten vor Lust und Verlegenheit. Auf dem Schefferschen Bilde sieht er minder kurzweilig aus, ja fast trübe, als ritte er eben über die Place de Grève, wo sein Vater geköpft worden; sein Pferd scheint zu straucheln. Ich glaube, auf dem Schefferschen Bilde ist auch der Kopf nicht oben so spitz zulaufend wie beim erlauchten Originale, wo diese eigentümliche Bildung mich immer an das Volkslied erinnert:
Es steht eine Tann’ im tiefen Tal,
Ist unten breit und oben schmal.
Sonst ist das Bild ziemlich getroffen, sehr ähnlich; doch diese Ähnlichkeit entdeckte ich erst, als ich den König selbst gesehen. Das scheint mir bedenklich, sehr bedenklich für den Wert der ganzen Schefferschen Porträtmalerei. Die Porträtmaler lassen sich nämlich in zwei Klassen einteilen. Die einen haben das wunderbare Talent, gerade diejenigen Züge aufzufassen und hinzumalen, die auch dem fremden Beschauer eine Idee von dem darzustellenden Gesichte geben, so daß er den Charakter des unbekannten Originals gleich begreift und letzteres, sobald er dessen ansichtig wird, gleich wiedererkennt. Bei den alten Meistern, vornehmlich bei Holbein, Tizian und van Dyck, finden wir solche Weise, und in ihren Porträten frappiert uns jene Unmittelbarkeit, die uns die Ähnlichkeit derselben mir den längst verstorbenen Originalen so lebendig zusichert. »Wir möchten darauf schwören, daß diese Porträte getroffen sind!« sagen wir dann unwillkürlich, wenn wir Galerien durchwandeln. Eine zweite Weise der Porträtmalerei finden wir namentlich bei englischen und französischen Malern, die nur das leichte Wiedererkennen beabsichtigen und nur jene Züge auf die Leinwand werfen, die uns das Gesicht und den Charakter des wohlbekannten Originals ins Gedächtnis zurückrufen. Diese Maler arbeiten eigentlich für die Erinnerung, und sie sind überaus beliebt bei wohlerzogenen Eltern und zärtlichen Eheleuten, die uns ihre Gemälde nach Tische zeigen und uns nicht genug versichern können, wie gar niedlich der liebe Kleine getroffen war, ehe er die Würmer bekommen, oder wie sprechend ähnlich der Herr Gemahl ist den wir noch nicht die Ehre haben zu kennen und dessen Bekanntschaft uns noch bevorsteht, wenn er von der Braunschweiger Messe zurückkehrt.
Scheffers »Leonore« ist in Hinsicht der Farbengebung weit ausgezeichneter als seine übrigen Stücke. Die Geschichte ist in die Zeit der Kreuzzüge verlegt, und der Maler gewann dadurch Gelegenheit zu brillanteren Kostümen und überhaupt zu einem romantischen Kolorit. Das heimkehrende Heer zieht vorüber, und die arme Leonore vermißt darunter ihren Geliebten. Es herrscht in dem ganzen Bilde eine sanfte Melancholie, nichts läßt den Spuk der künftigen Nacht vorausahnen. Aber ich glaube eben, weil der Maler die Szene in die fromme Zeit der Kreuzzüge verlegt hat, wird die verlassene Leonore nicht die Gottheit lästern, und der tote Reuter wird sie nicht abholen. Die Bürgersche Leonore lebte in einer protestantischen, skeptischen Periode, und ihr Geliebter zog in den Siebenjährigen Krieg, um Schlesien für den Freund Voltaires zu erkämpfen. Die Scheffersche Leonore lebte hingegen in einem katholischen gläubigen Zeitalter, wo Hunderttausende, begeistert von einem religiösen Gedanken, sich ein rotes Kreuz auf den Rock nähten und als Pilgerkrieger nach dem Morgenlande wanderten, um dort ein Grab zu erobern. Sonderbare Zeit! Aber, wir Menschen, sind wir nicht alle Kreuzritter, die wir mit allen unseren mühseligsten Kämpfen am Ende nur ein Grab erobern? Diesen Gedanken lese ich auf dem edlen Gesichte des Ritters, der von seinem hohen Pferde herab so mitleidig auf die trauernde Leonore niederschaut. Diese lehnt ihr Haupt an die Schulter der Mutter. Sie ist eine
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