Saemtliche Werke von Jean Paul
mit Hoffnung und Genuß. Aber auch in der moralischen Welt ist die wohltätige Einrichtung, daß Fürsten und ihre Ministerien uns Bittsteller (so will Campe statt Supplikant hören) dadurch froh und munter erhalten, daß sie uns durch eine Augen-Täuschung die Hofstellen, Ämter, Gnaden, die wir haben wollen, allzeit um einige hundert Meilen oder Monate näher – wir können sie mit der Hand erlangen, denken wir – sehen lassen, als sie wirklich sind. Diese Täuschung der Annäherung ist auch alsdann nützlich und gewöhnlich, wenn die geistliche oder weltliche Bank, die den Sitzern auf der langen Expektantenbank näher gewiesen wird, am Ende gar bloß eine – Nebelbank ist.
»Der Kommerzien-Agent«, sagte unterwegs der Rittmeister zu mir, »ist doch kein so übler Mann, als sie ihn machen – und der Legationrat braucht nur vollends in die Jahre zu kommen.« –
Zwanzigster Sekto r
Das zweite Lebens-Jahrzehend – Gespenstergeschichte – Nacht-Auftritt – Lebensregeln
Oefel hielt Wort. Vierzehn Tage darauf schrieb uns der Professor Hoppedizel, er werde den neuen Kadetten abholen. – – Nun wurde unser bisheriger Wunsch unsre Pein. Gustavs und mein Bund sollte auseinandergedehnt und verrenkt werden; jedes Buch, das wir nun zusammen lasen, kränkte uns mit dem Gedanken, daß es jeder allein zu Ende bringen würde; ich wollte meinem Gustav kaum etwas mehr lehren, dessen Ausbau ich an fremde Architekten übergeben mußte, und jeder schöne Blumenplatz war uns die Gartentür des Edens, die ein bewaffneter Cherub abschloß. Die Sturmmonate seines Herzens rückten nun auch näher. Ich hatte ohnehin den Flügeln seiner Phantasie nicht Federn genug ausgerisssen und ihn aus seiner Einsamkeit nicht oft genug verjagt. In dieser trieb seine Phantasie ihre Wurzeln in alle Fibern seiner Natur hinein und verhing mit den Blüten, die seinen Kopf ausraubten, die Eingänge des äußern Lichts. –
Wahrhaftig weder der klappernde Mentor noch seine Bücher, d. h. weder die Gartenschere noch die Gießkanne sättigen und färben die Blume, sondern der Himmel und die Erde, zwischen denen sie steht – d. h. die Einsamkeit oder Gesellschaft, in der das Kind seine ersten Knospen-Minuten durchwächset. Gesellschaft treibt im Alltagkind, das seine Funken nur an fremden Stößen gibt. Aber Einsamkeit zieht sich am besten über die erhabnere Seele, wie ein öder Platz einen Palast erhebt; hier erzieht sie sich unter befreundeten Bildern und Träumen harmonischer als unter ungleichartigen Nutzanwendungen. Um so mehr haben General-Akziskollegien darauf zu sehen, daß große poetische Genies – im Grunde taugt keines zu einem gescheiten Kammer- oder Kanzleiverwandten – vom zehnten Jahre bis zum fünfunddreißigsten in lauter Besuch-, Schreib- und Votierzimmern herumgehetzet werden, ohne in eine stille Minute zu kommen; sonst ist keines in einen Archivar oder Registrator umzusetzen. Daher hält auch das Marktgetöse der großen Welt allen Wuchs der Phantasie so glücklich am Boden.
Daran dacht’ ich oft und warf mir manches vor. Würde nicht (hielt ich mir vor) ein gründlicherer Schulkollege deinen Gustav, wenn er mit dem Rücken auf dem Grase liegt und in den blauen Himmelkrater hinaufzusinken oder auf Flügeln an den Schulterblättern durch das All zu schwimmen träumt, mit dem Spazierstock an ein Buch von Nutzen treiben? Und, sagt’ ich, wenn ich zum gründlichern Kollegen sagte, es sei einerlei, woran eine kindliche Phantasie sich aufwinde, ob an einem lackierten Stäbchen, oder an einer lebendigen Ulme, oder an einem schwarzen Räucherstecken: würde der Kollege nicht witzig versetzen, eben deshalb, es sei also einerlei? –
Inzwischen besäß’ ich meines Orts auch Witz; ich würde auf die Replik verfallen: »Glauben Sie denn, Herr Konfrater, daß unter dem größten Spitzbuben und dem größten komischen Dichter, den Sie verlieren, ein Unterschied ist? – Allerdings; ein guter Plan des Cartouche ist von einem guten Plan des Dichters Goldoni darin verschieden, daß der erste die Komödie selber ausführet, die der letzte von Schauspielern ausführen lässet.«
Gustav war jetzt in der Mitte des schönsten und wichtigsten Jahrzehends der menschlichen Flucht ins Grab, im zweiten nämlich. Dieses Jahrzehend des Lebens besteht aus den längsten und heißesten Tagen; und – wie die heiße Zone zugleich die Größe und den Gift der Tiere mehrt – so kocht sich an der Jünglingglut zwar die Liebe reif, die
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